Als Berliner Zimmer bezeichnet man einen Wohnraum, der das Vorderhaus mit dem Seitenflügel eines Gebäudes bzw. den Seitenflügel mit dem Hinterhaus verbindet. Es ist ein großer Raum, der trotz seiner Größe nur über ein einziges Eck-Fenster verfügt, das zum Hof hinausgeht und daher, vor allem in den unteren Stockwerken, wenig Licht spendet. (Quelle: Wikipedia)
Freiheit und Abenteuer
Ein wohltuend kühles Lüftchen ist das heute Abend, als ich unter einem sich zum Kampf rüstenden Gewitterhimmel eine Runde durch die Schrebergärten fahre, mit Rucksack, falls ich Äpfel finde. In meiner Straße sitzen die Menschen in den Cafés, als sei es ihr Wohnzimmer. Ich grüße eine Nachbarin und singe ein bisschen, atme tief und erschrecke wie beim ersten Mal angesichts des verheerenden Baumsterbens unter der Dürre. Als hätte ich das Gewitter gerufen, als ich gestern noch mit dem Eimer unsere Hinterhofbäume goss und den Haselnussbaum vor der Haustür zur Straße. Aber der große Regen bleibt aus. Es tröpfelt ein bisschen. Die Schöpfung hat unser kollektives Verdorren beschlossen. Na gut. Ich koch Lavendeltee und sitz am offenen Fenster zum Gewitterviewing. Es tröpfelt ein bisschen… als habe uns jemand den Hahn abgedreht.
Heute Morgen in der U-Bahn, als sei es das erste Mal, obwohl es schon 5 Monate dauert, die maskierten Fahrgäste auf ihren Sitzen, wie geknebeltes Vieh auf dem Weg zur Schlachtbank, betäubt von Smartphones, gedemütigt irgendwie. Ich atme heimlich und tief ein und aus unter der leicht mit dem Finger angehobenen Maske, sodass mein Ausatmen auf dem Hals spürbar ist. Ich will nicht ersticken an meiner Rückatmung.
Es sollen schon Leute wegen Lungen-Pilzinfektionen im Krankenhaus gelandet sein, weil sie ihre Masken nicht oft genug gewechselt haben. Man dreht uns nicht nur das Wasser, sondern auch die Luft ab. Wir sollen unseren Atem für uns behalten, den wir sonst miteinander vermischen auf engstem Raum. Das ist sozial. Wir brauchen das. Auch das Erkennen unserer Gesichter brauchen wir. Ein Baby guckt mit ängstlich an aus dem Kinderwagen, es erkennt mein Lächeln nicht. Das arme Kind. Haben wir uns zu sehr miteinander verstrickt und vermischt? Ist Maskenpflicht jetzt die Antwort? Weil wir einander nicht in Ruhe lassen konnten mit unserer ständigen Einmischung in anderer Leute Angelegenheiten? Behalt deinen Atem für dich, ist die Botschaft der Maske. Und sag nichts. Halt den Mund und lass dich melken, kontaktlos, mit Karte. Sonst haben wir nichts mehr zu melden. Nur auf dem Fahrrad ist Freiheit und Abenteuer. Ich koche Apfelmus.
Was wird uns wohl als nächstes noch abgedreht?
Schon mal unter Corona shoppen gewesen? Nein? Bisher
alles online gemacht? Sie haben was verpasst! Und ich sage: Einmal sollte man dabei gewesen sein!
Heute war ich bei Saturn Hansa, um ein neues Telefon zu kaufen. Just in der 41. Telefonkonferenz am 41. Lockdown-Tag gab mein Gigaset den Geist auf. Wiederbelebungsversuche zwecklos. Ich stürzte
sofort los, um die elektronische Nabelschnur zur Außenwelt wiederherzustellen.
Um 11 Uhr reihte ich mich mit Mundschutz in die Schlange ein. Eine Ordnungskraft gab mir die Nummer 108. Kurz darauf erklärte der Mann mit der Neonweste den andrängenden Kunden: „ab Jetzt werden
keine Nummern mehr verteilt, kommen Sie in 20 Minuten wieder.“ WARUM WARUM WARUM?“, fragte der Kunde. „Ja weil der Raum hier frei bleiben muss, die Schlange wird zu lang sonst. Ich schwitzte Blut
und Wasser hinter meinem Mundschutz. Hinter mir rammte ein Türke seinen Einkaufswagen in meine Kniekehlen. Ich ordnete Abstand an, barsch wie ein
Polizist und fragte mich, wo meine Geduld und Freundlichkeit geblieben sind. Eine Stunde später war ich im Saturn.
Als Kind lag ich viele Tage in Masern-Quarantäne. Meine Mutter schenkte mir ein Buch: „Marion und das rote Telefon“. Ich hab es zweimal gelesen. Dann war ich wieder gesund und wusste alles über
Marion und ihre Freundinnen. Ich hatte keine.
Ich ging durch den Elektronik-Markt. Die Gänge waren mit rot-weiß-Bändern gesperrt. Überall Pfeile auf dem Boden, wo man laufen musste. Die Regale durcheinander, Ware ist nicht ausgepreist, kein
Ansprechpartner. Ich nahm das nächstbeste Telefon aus der Special Offer Gondel und sah zu, dass ich rauskam. Lebensmittel brauchte ich noch. Also in den Supermarkt. Es gab weder Spargel, noch
Erdbeeren noch Ziegenkäse. Ich lege den verrotteten Rhabarber wieder zurück, rümpfte die Nase über faulen Äpfeln und hatte nur das Nötigste im Warenkorb.
Heute hat mein Vater Geburtstag. Er wäre heute 95 Jahre alt. Ein Jugendfreund hat mich daran erinnert. Schöne Grüße. Ich reiße die Packung auf und schließe das Telefon an. Es muss erst laden. In
4 Stunden kann ich wieder telefonieren. Na bitte!
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
… ist das, was Menschen, die auf engem Raum zusammenleben, täglich austauschen, solange wir ausatmen. Wir atmen es weiter an die anderen und wir atmen es ein von den anderen. Und mit dem Aerosol gehen unsere Gedanken, wir atmen sie ein von den anderen und wir atmen sie weiter an die anderen. Sie haften sich an und schwächen oder stärken uns, oder sind neutral. Atem und Gedanken sind die Wurzel unserer körperlich-geistigen Existenz.
Die U-Bahnen sind leer und jeder sitzt allein, eingehüllt in das Aerosol seiner Gedanken. Sie spiegeln den körperlichen Zustand wider, gepflegt, vernachlässigt, alkoholisiert, krank, durchtrainiert, übernächtigt, zerstritten: Alles bildet sich in unserem Aerosol ab. Wer denkt, er könne irgendetwas verbergen vor anderen Menschen hat sich getäuscht. Die Realität, in der wir leben, ist die Summe der Aerosole, die wir aushauchen, und diese „Ozonschicht“ des lebenden Menschen ist die Brille, durch die wir auf die Welt blicken.
Es hat sich herumgesprochen, dass sich das Corona-Virus, vor dem wir uns alle ducken, auch über das Aerosol übertragen kann. Ich rieche die Frühlingsluft und erinnere mich, wie es war, als ich in überfüllten Zügen noch dicht an dicht mit Menschen zusammengepfercht stand.
Für den Rest des Tages bleib ich zu Hause und pflege meine Aura.
heute war es schön, mit fast niemand zu sprechen und einfach nur zu tun, worauf ich Lust hab. Morgen hab ich dann wirder drei Telefonkonferenzen. Toll dass es zoom gibt. Toll eingebunden zu sein, trotz Lockdown. Zweimal waren Leute an meiner Tür, denen ich was über Kleinanzeigen verkauft hab. Nicht lange rumtratschen, zwei Meter Abstand halten und den drei Sekunden Deal machen. So soll das auch nach der Corona Krise sein. Ich find das cool.
Wenn ich auf die Straße gehe, weiche ich aus, um Abstand zu haben. Die meisten nehmen keine Rücksicht. Indem ich ausweiche, lasse ich mich treiben und finde Ecken, in denen ich noch nie gewesen bin, in meiner nächsten Nachbarschaft. Das ist mein neues Spiel. Ich merke gerade, wie viel Stress ich vor Corona tagtäglich hatte, weil mir Hinz und Kunz viel zu dicht auf die Pelle gerückt ist, auf der Straße, in den Bahnen, an den Supermarktkassen. Dieser Stress ist jetzt weitgehend verschwunden und ich merke sehr genau, wann er wieder auftritt.
Ich wünsche allen, die an ihren Angehörigen leiden auf engstem Raum viel Geduld, Aufgeschlossenheit und Toleranz. Andere sind anders. Sie werden nie und niemals so, wie wir sie gern hätten.
Gute Nacht.
Draußen tobt Corona und ich hab Lust auf Essiggurken. Ich bin nicht schwanger, aber vielleicht hängt es mit der Angst zusammen, oder damit, dass jetzt Einlasskontrolle ist beim Edeka um die Ecke. Da stehen Schlangen in 1,5 Meter-Abstand. Also heute keine Essiggurken. Nichts ist einem gegönnt. Das gesamte soziale Leben steht still. Keine hell erleuchteten Schaufenster, keine belebten Straßencafés mehr, Eisengittertore zu, Rollläden runter, Schilder, Hinweise, Vorschriften. Ein Kind vergießt Sterillium auf der Straße. Ich verschenke mein BVG Ticket. Ich brauch es nicht mehr. Ich bleib zu Hause.
Das letzte fragwürdige Vergnügen ist Lebensmittel einkaufen. Und plötzlich braucht jeder ganz viel davon. Ich hab nach wie vor seit Wochen keine Backhefe und kein Klopapier bekommen. Ich sehe wundervolle Hefewürfel bei anderen Leuten im Haushalt vertrocknen. Und mein Brot riecht komisch nach Natron. Was soll ich auch sonst machen? Zeitung lesen und meinen Kopf vergiften mit der Panikmache auf hohem Niveau von studierten Experten? Die wollen wissen, wie die Zukunft ist. Und ich sage euch, was eure Zukunft ist: Wenn ihr jetzt Angst habt, dann werdet ihr auch in Zukunft Angst haben. Die Journalisten verpacken ihre eigene Angst doch nur auf vornehme Weise, als so genannte Experten. Ich kauf es euch nicht ab. Und während ich Sauerkirsch-Muffins esse und Liebesfilme schaue, spüre ich plötzlich: Meine Zeit kommt erst noch. Und ich freu mich auf morgen: Da werde ich in aller Frühe Essiggurken kaufen. Meine Shopping Experience lass ich mir nicht nehmen. Schwanger gehe ich mit meiner Zukunft und die wird gut sein, denn Mut ist unendlich. Angst ist eng.
P.S. Habt ihr nicht auch unter dem würdelosen Gedränge in Bus und Bahn oder auf der Straße gelitten? Jetzt ist der Abstand gesetzlich verordnet, den wir naturgemäß als soziale Wesen ohnehin brauchen: 1,5 Meter. Gott fühlt sich das gut an. Und die Menschen sind so entspannt. Wenn das so ist, kann Corona bleiben.
P.P.S: BITTE BITTE LASST MICH IN RUH MIT DIESER GANZEN WEITERGELEITETEN WHATSAPPs
P.P.P.S: Liebe ist … Abstand halten
P.P.P.P.S. Bitte selbst ergänzen…
Seit Daphne Elfenbein ihr lukratives Dasein als Büroratte hinter sich gelassen hat, wo sie nach Herzenslust Kolleginnen gebissen und Kabel durchgenagt hat, bis sie - äh – befördert wurde, hat sie ein neues Hobby: Shopping!
Berlin – die Schmuddelmetropole ihrer Träume – hat ja einen Mangel an Shopping-Centern. Das liegt daran, dass die Bauherren so gesetzestreu sind und niemals rumänische Arbeiter für 6 Euro die Stunde beschäftigen. Drum muss Daphne Elfenbein sehr weit fahren, um in das Shopping Center ihrer Träume zu gelangen, wo sie sich einen ganzen Tag lang austobt und immer wieder gern die weißen Handschuhe auszieht, um aus dem silbernen Beutelchen, das niemals leer wird, hübsche Scheinchen über den Ladentisch zu schieben und mit entzücktem Lächeln zuzusehen, wie sie auf Echtheit geprüft werden, um dann Produkte über Produkte einzusacken in diese schicken Einkaufstaschen mit den schicken Logos und den Tragekordeln, an denen jede kleine Hausfrau ablesen kann, in was für Luxusläden Frau Elfenbein ein und ausgeht.
Dass die Sächelchen später gern bei Humana (DER Second Hand-Adresse in Berlin) landen, sollte hier eigentlich nicht erwähnt werden, aber nun … der Vollständigkeit halber.
Irgendwo müssen sie ja hin, die Millionen. Schließlich ist bald Berlinale. Und da braucht Frau was zum Anziehen. Schon bei der Feministischen Modenschau von Karl Lagerfeld ist das außerordentliche Model-Talent von Daphne Elfenbein Reportern von Vogue und Gala aufgefallen. Ein Model ist heutzutage kein feminines Dummchen mehr, dass grade mal zum Poppen taugt. Ein Model hat Betriebswirtschaft studiert, schaut klug und selbstsicher durch Brillengläser in die Kamera mit ihrer gerichteten Aristokratennase und lässt sich von keinem was erzählen. Der Mund kommt von Botox, die Frisur von L’Oreal und die Wimpern von – äh – Chanel. Und der rote Teppich kommt auch gleich angerollt. Aber heut wird nicht flaniert auf der Mall of fame, sondern demonstriert gegen die Mall of Shame. Jawohl. Für mehr Rechte und weniger Gewalt. Für mehr Geld und weniger Arbeit. Für große Lohntüten, die pünktlich ausgezahlt werden. Oder haben die die Rumänen etwa mit leeren Händen wieder heim geschickt, als die Mall fertig gebaut war? Oh je.
Eine Million Friedenstauben für die Frauen dieser Welt, die zu viel gehauen werden, zu wenig verdienen. Eine Million Friedenstauben, damit die Rumänischen Bauarbeiter in beheizten Bauwagen schlafen dürfen. Frauen in der Politik kriegen allesamt eine Quote und kommen jetzt aus Hollywood in den Bundestag. Das macht Feminismus richtig sexy und auch für Männer angstfrei und potenzfreundlich.
Was ganz Anderes. Damit Daphne Elfenbein sich beim Berlinale-Presseball ihr neues Versace Kleid nicht ruiniert, hat sie sich einen Apfelschneider bei Rossmann-Ideenwelt gekauft. Die befindet sich im Untergeschoss des Hotels. Eine halbe Stunde hat sie vor der strahlenden Auslage von Kurzzeit-Artikeln gestanden, der Lockenstab, die Toastbrotbox, die Knäckebrotbox, die Einweg Click-Box, das Trainings-Armband, die Kaffeepad-Dose, Puh…
Liebe Leserinnen, wusstet ihr, dass Daphne
Elfenbein eine Vorliebe für reife Birnen hat? Der 5. Gang beim Presseball-Dinner im Gargantua ist Daphne Elfenbeins glamouröser Höhepunkt. Da bringt ihr das griechische Personal traditionsgemäß
eine riesengroße Williams-Birne, goldgelb, nebst einem Schälchen Frischkäse, drei Feigen und einem Messerchen und stellt es mit weißen Handschuhen auf die Tafel. Und da Daphne Elfenbein mit solch
gewalttätigen Werkzeugen nicht umgehen kann und aus dem Alter raus ist, wo man sich ein Lätzchen umbindet, um nicht zu kleckern, hat sie sich für die Rossmann-Apfelschneider-Lösung entschieden.
Diesen weiß-grünen Küchenhelfer ohne Migrationshintergrund wird sie um Mitternacht diskret aus dem Gucci Täschchen ziehen und damit ihre Fließbirne rituell in 6 gleich große Schnitze zerteilen,
sodass der Saft üppig über den Tellerrand schwappt. Und während um sie herum die Größen aus Presse, Film und Fernsehen Name dropping betreiben, betreibt Frau Elfenbein Birnen-dripping. Na ja, sie
sabbert noch ein bisschen bei der Obst-Attacke und ihre feministischen Fingernägel kriegen Säure-Flecken. Aber was soll' s - auch der liebe Gott hat nur geübt. Dem griechischen Kellner, der ihr
eine zweite Serviette bringt, lässt sie später diskret 20 Cent in die Servierschürze gleiten.(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Dass Daphne Elfenbein vom Himmel gefallen und auf den Füßen gelandet ist bei ihrer Geburt, ist in eingeweihten Kreisen hinlänglich bekannt. Dass sie aber nun, nach mehr als 50 Jahren des Irrens und Wirrens in Berlin angekommen ist, das soll heute über den Äther kundgetan werden. Zu Beginn des Neuen Jahres, wo die Glastonnen aus den Hinterhöfen verschwunden sind und an jeder Registerkasse auf Gedeih und Verderb Bons ausgegeben werden müssen, gibt es doch immerhin diese eine gute Nachricht. Frau Elfenbein ist von der Markgräflerin zum Berliner Urgestein mutiert. Zunächst soll hier in einer Schweigeminute der armen Verkäuferinnen gedacht werden, die bis zu 800 mal am Tag „möchten Sie den Bon?“ fragen müssen. ---- (Schweigeminute). Und nun ein konstruktiver Lösungsvorschlag zur Kassenbon-Frage: Verlangen Sie den Bon doppelt! Dann haben Sie ein BonBon!
Warum aber hat Daphne Elfenbein in Berlin nun ihre Heimat gefunden? Hat sie einen Test in Berlinkunde bestanden? Ist ihr Fell dick genug für die Unverschämtheit dieser Stadt? Nein. Wie jeden Morgen verließ sie heute 5 Minuten zu spät das Haus, um 5 Minuten zu spät zur U-Bahn zu kommen und 5 Minuten zu spät zur Arbeit. Ein wirksamer Auftritt. Hierzu gibt es mal eine Sondersendung. Wenn es mal ein freies Thema gibt.
Wie ging es weiter? Auf dem Weg zur U-Bahn nahm sie eine scheppernde klappernde Tasche mit leeren Gurkengläsern mit, die in die Altglastonne mussten. Nein, nicht im Hinterhof. Beim Park vorne, 200 Meter die Straße runter. Das erklärt das Zuspätkommen. Wenn die Glastonnen noch im Hinterhof stünden, dann wäre sie pünktlich gewesen. Die BSR ist schuld. Müssen die jetzt die Glastonnen aus den Hinterhöfen nehmen? Darüber hat sie sich lang und breit ausgejammert auf sämtlichen sozialen Netzwerken, so lange bis es eine Petition zur Wiedereinführung der Glastonne im Hinterhof gekommen ist. Darauf ist Frau Elfenbein stolz. Ihre Nachbarn haben kräftig mitgejammert: „Es klappert so furchtbar, ich kann gar nicht mehr schlafen! Und wenn man über die Straße will, sieht man nix, das ist ja lebensgefährlich, mit diesen Glastonnen am Straßenrand. Ich bin so behindert, ich schaff das nicht zur Altglastonne.“
Die U-Bahn war dann berlintypisch auch zu spät, wegen einer technischen Betriebsstörung. Technische Betriebsstörung in Berlin kann dreierlei heißen: a) der Fahrer kam nicht zum Dienst oder ist in seiner Laube am gasenden Grill erstickt, den er zu Heizzwecken in sein Schlafzimmer gestellt hat. B) es hat sich wieder jemand vor den Zug geworfen oder ist von einem Irren auf die Gleise geschubst worden. C) es gibt einen Polizeieinsatz wegen Bandenkriminalität. Auch so eine Frage für den Berlin-Test. Aber um wirklich wirklich Berliner Urgestein zu werden, braucht es noch etwas ganz anderes…
Die Glastonnen waren so überfüllt, wie die verspätete U-Bahn. Frau Elfenbein zwängte sich in die Menschenmenge hinein zum BVG-Kuscheltreffen. Der Fahrer brüllte über die Fahrgastinformation: bitte benutzen Sie die Türen des gesamten Zuges. Und jetzt kommt’s: Frau Elfenbein brüllte zurück: „Und wer nicht reinpasst, fährt auf´m Dach mit!“ Die Fahrgäste stierten vor sich hin. Eine verzog schmerzhaft den Mund. Frau Elfenbein trällerte den „Zug nach Kötzschenbroda“ und ging beschwingt über den Kudamm. Daphne Elfenbein steht schon auf der Warteliste für einen Schrebergarten.
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Die BVG ist ein Subventionsunternehmen. Ihre Kunden subventionieren sie nicht nur durch unfreiwillige Spenden, sondern auch mit ZEIT. Die Bahnsteigbesichtigung gehört zu den wichtigsten täglichen Fundraisingveranstaltungen. Dicht an dicht stehen die Fahrgäste zwischen verschmierten Kacheln unter trüben Funzeln, von Werbeplakaten belästigt. Aber der Zug kommt nicht. Und der Bus. Und die Tram kommt auch nicht. Heute ist es die Buslinie 120. Vorm Bundeswehrkrankenhaus. „Die BVG mal wieder“ meckert die Frau mit der Lidl Tüte, die ihren mächtigen Hintern über zwei Sitze im Bushäuschen gebreitet hat. „Das ist hier immer so“, sagt die Frau im Lodenmantel, „ich wohne hier, und wenn der Bus nicht kommt, geh ich einfach nochmal rein ins Warme.“ Dabei lächelt sie so zuversichtlich, dass Daphne Elfenbein misstrauisch wird. „Sieben Minuten ist er schon drüber“, stellt der picklige Rekrut fest, der in seiner Camouflage Uniform so strammsteht, dass er fast einen Krampf kriegt. Er dient seinen Mitbürgern grade mit Smartphonerecherchen nach der Echtzeit des Linienverkehrs. Der Pulk der Wartenden wird immer größer. Das Gemecker immer lauter. Es fängt an zu nieseln. Daphne Elfenbein kickt in den Laubhaufen, der hinter dem Bushäuschen steht und verstreut den städtisch geordneten Herbst über den Gehweg. Zwei Stationen…. Überlegt sie…wären eventuell auch zu Fuß zu schaffen.
Wer sich fortbewegen will in dieser Stadt, muss warten. Das ist die inoffizielle BVG-Philosophie. „Weil wir dich lieben“ werben sie offiziell. „Wenigstens einer, der mich liebt“, findet Daphne Elfenbein, lächelt in das gelbe Herzchen hinein, das am Bushäuschen klebt, und wartet gern noch ein Weilchen… oder zwei. Aber dann fällt ihr ein, was ihre Therapeutin neulich sagte: Liebe ist nicht warten. Eine Viertelstunde ist inzwischen vergangen. Sie schaut auf die Uhr, obwohl sie das grade eben schon getan hat. „Der letzte Bus kam auch nicht“, weiß ein Fahrgast mit Krücken, der wacker im Nieselregen in seinen Stützen hängt. „Ja ja, die Linie fällt oft einfach aus“, weiß die Anwohnerin im Lodenmantel. „Aber dort drüben ist das Café Steinecke“, die habe heute Linsensuppe mit Wursteinlage.“
„Mir reichts! Ich geh!“ verabschiedet sich Daphne Elfenbein und eilt stracks die Straße runter. Sind ja nur 20 Minuten. Nach 20 Metern bleibt sie stehen und dreht sich um. Zwischen Nebelschleiern taucht doch da tatsächlich die gelb-schwarze Front eines BVG-Busses auf. Beheizt, mit Sitzplätzen und lauter gelben Herzchen in den Fenstern… Sie dreht sich um und rennt. Der Pulk der treuen Fahrgäste schart sich schon um die offene Eingangstür. „Sehen Sie!“, ruft Frau Elfenbein und winkt ihnen zu, „so macht man das mit der Liebe!“ Du tust einfach, als wenn du abhaust und schon benimmt sich der Bus!“ Der Rekrut versteht das nicht. Die Dame mit der Lidl Tüte klettert zuerst hinein. Am Steuer glotzt ein uniformierter Fahrer gelangweilt auf sein Transportgut. Frau Elfenbein hat für heute genug investiert, prüft in den 5 Minuten bis zur Endstation Hauptbahnhof, ob ihr Geld gut angelegt ist, und fährt heute mal schwarz.
(c) Daphne Elfenbein
Klingeling!!!! „Hallo! Hallo? Wer ist da bitte?“
„Ja hier die Berliner Wasserbetriebe, guten Tag mein Name ist Kunz…spreche ich mit Herrn Hinz?“
„Aha… Und was wollen Sie?“
„Wir haben festgestellt, dass Sie heute Morgen zu lange geduscht haben. Unser Zähler ist zusammengebrochen.“
„Huch! Nee… das gibt* s doch nicht!“
„Sie haben Ihr Höchstverbrauchskontingent überschritten und unser gesamtes Wasserverbrauchts-Überwachungssystem lahmgelegt!“
„Ich? Ich doch nicht! Da muss eine Verwechslung vorliegen.“
„In Anbetracht der streng geregelten Wasserverbrauchs-Zuteilung für Einzelhaushalte in dieser Stadt müssen wir Ihre Warmwasserversorgung bis zum Ende des Monats sperren.“
„Nee, also das geht gar nicht! Das können Sie nicht machen. Ich hab die Lizenz zum Duschen. Ein ärztliches Attest. Und außerdem sollen die da oben endlich mal was gegen den Klimawandel machen. Seit 5 Jahren geh ich jeden Freitag auf die Straße und nichts passiert! Und dann will man mir noch das Duschen verbieten. Nicht mit mir!“
„Hm, ärztliches Attest? Lassen Sie mich nachsehen…. Nein… ein solches Attest liegt uns nicht vor. Können Sie es uns zusenden?“
„Ja jaaaaa…. Also klaaaar… doch das dauert… das hat eine gewisse Bearbeitungszeit wissen Sie… So lange müssen Sie mir eben den Wasserhahn offen halten.“
„Wir geben Ihnen drei Tage. In Anbetracht Ihrer Aktenlage ist das Ihre letzte Möglichkeit….“
„Oooooh…“
„Bevor wir Ihnen das Wasser ganz abstellen!“
© Brigitte Hallbauer
Das riesige Gerippe eines Gasometers, ein Einkaufszentrum aus Penny, Aldi und gleich zwei Futterhäusern. Ich bin am Ziel. Der gelbe Bus schaukelt über die Kamenzer Brücke Richtung Alt Mariendorf.
Ob hier die Nachkriegswohnungen wohl an Haustiere vermittelt werden? Frage ich mich. Ich stehe auf der Kamenzer Brücke und suche ein Café. Da ich allein unterwegs bin, macht mir von Innen jemand
die Hölle heiß: „Was fährst du zum Arsch der Welt und suchst am unmöglichsten aller Orte nach einem Café. Du bist wirklich die Spezialistin für unerfüllbare Sonderwünsche“.
„Ich muss aber mal pinkeln“, sage ich und sehe mich um. Eine Autovermietung, ein Propangashandel und ein so genannter „Candy Store“, bei dem es vermutlich alles andere gibt als Bonbons, denn die
Fenster und Türen sind verrammelt wie bei einem Puff.
„Immer wenn es spannend wird, musst du pinkeln“, beschwert sich mein Freund, „dabei könnten wir jetzt mal die Schrebergärten dort unten erkunden, dort gibt es Äpfel und Walnüsse."
„Siehste“, sage ich und deute auf ein riesiges Veterinärmedizinisches Zentrum, „Ich hatte doch recht mit den Hunden als Hauptmieter!“
„Ja ja“, sagst du, „“und das Planetarium am Insulaner hat eine Sportabteilung!“.
„Ja weil da die Frau ausgestiegen ist“, sage ich, „die im Sportdress. Die arbeitet dort. Sonst gab es doch da nichts. Nur der Park mit zwei Kuppeln im Gebüsch. Wo sollte sie denn sonst hin, wenn
sie beim Planetarium aussteigt. Von Moabit bis Schöneberg hat sie an ihrer Ditsch-Brezel gemümmelt und dreingeschaut wie eine beleidigte Siebenjährige. Bestimmt hat sie Schlager gehört auf ihren
Ohrstöpseln, und von Liebe geträumt, ab und an eine WhatsApp getippt an irgendein Schätzchen. Mitunter warf sie diesen trotzig fordernden Blick nach schräg oben, als wolle sie dem Papa die
nächste Zuckerwatte aus dem Ärmel leiern. Sie isst gerne. Aber sie treibt auch Sport. Diese knielangen Stretch Hosen, als sie aufsteht, uiiii, das ist gewagt. Doch das schwarze Zelt, das Adipöse
so gern tragen, kaschiert das Hüftgold. Die Sporttasche ist echt schnittig. Doch das Hirn suche ich vergeblich hinter dem tief in die Augen hängenden Pony. Wieso kommen mir heute alle Leute so
hirnlos vor?
„Selber hirnlos“, meint mein Nörgler, „und hör auf, die Leute so abzutaxieren, das ist indiskret!“
„Ruhe, ich hab heute meinen freien Tag!“
Spannend, auch die korpulente Dame mit dem geschmackvollen roten Kittel vorne links im Bus. Schon an der Bushaltestelle in der Turmstraße ist sie mir aufgefallen. Hirnlos, der kleine
kurzgeschorene Graukopf, der in fleischigen Schultern versinkt, das Schnäbelchen vom berufsmäßigen Fressen geadelt, das Fleisch passiv und selbstbewusst über zwei schaukelnde BVG Sitze gebreitet.
Dabei die Fingernägel, ich erschrecke angesichts dieser scharfen roten Waffen. Diese Frau kämpft um ihre Brötchentüte. Und zu Weihnachten gibt´s Lametta. Und dass sie kaum gehen kann vor
Schmerzen, dafür sind ihre Ärzte verantwortlich. „Das wird schon“, sehe ich sie denken, als sie ihre Körpermasse am Innsbrucker Platz aus dem Bus quält und davon schaukelt.
Dort steigt übrigens auch der junge Chinese aus, der in blütenreinem Blau-Weiß den Adel seiner Ahnenlinie im Rucksack trägt. Dieses ewige Lächeln, die Würde in jeder Bewegung, Diese
Freundlichkeit ist bedenklich. Dürfen solche Leute in Berlin frei herumlaufen?? Ich meine, wie schnell so was kaputt geht.
Man bedenke das heutige Polizeiaufgebot. Das ist nichts für feine Wesen. Von der Rathenower Straße beim Amtsgericht bis Bellevue war die Einsatzwagen-Dichte am höchsten. Vor dem Amtsgericht eine
Demonstration gegen Polizeigewalt. Die Bildzeitung wusste heute früh von einer nächtlichen Schlägerei in der U2. Ein Polizist hatte ordentlich mitgeprügelt und vergessen, dass er eine Uniform
trug. Hat er selber mal zu der Gang gehört, die er jetzt verhaften sollte?
„Du siehst zu viele Filme. Gib zu, dass du keine Ahnung hast.“ Vermeldet nun wieder mein innerer Begleiter. Ich rolle die Augen und schau aus dem Fenster.
Der Bus bewegt sich schwerfällig um eine riesige Baustelle herum. Hier kann garantiert kein Demonstrationszug durch. Ach was wäre Berlin ohne die stabilen rot-weißen Straßensperren, die man zu
endlosen Ketten zusammenfügen kann wie damals die Bauklötzchen, auf die Mutti zur Belohnung ein Stück Schokolade gelegt hat? In der Turmstraße steigt ein Ehepaar ein, um das ich mir ernsthafte
Sorgen mache. Eine magere Schwangere huscht in den Bus, im Schlepptau ihres Mannes, dem die Kälte und sabbernde Gewaltbereitschaft eines verletzten Tiers in den rohen Gesichtszügen steht. Auch
hier fehlt das Hirn auf erschreckende Weise. Auf seinen fordernden Wink (komplett beziehungsfrei), reicht ihm die Frau den Ayran, aus dem sie grade trinkt. Der Mann nimmt einen Schluck und reicht
ihn zurück ohne hinzusehen. Die Frau existiert nicht für ihn. Ich schätze, sie schläft nicht mit ihm, weil sie schwanger ist. Willkommen auf dem Planeten, liebes Ungeborenes.
Doch jetzt kommt´s: Nach der Runde um die Goldelse am Großen Stern steigt ein Engel in den Bus. Die junge Frau schreitet in weißen Pantöffelchen mit weißen Federpuscheln, die sich bei jedem
Lufthauch bewegen, als ginge sie auf Wolken, unberührt vom Schmutz der Stadt, dem kollektiven Mief der Linie 187, der Negativität in den verbrauchten Gesichtern. Sie nimmt Platz neben einer
Türkin mit Einkaufstrolley. Ihr rotblondes Haar glänzt in der Sonne. Die vollen Herzchenlippen im rosigen Gesicht sprechen von Liebe, Tugend und Unschuld. Der weich gerundete von Yoga geadelte
Körper steckt in Jeans und weißer Bluse. Die Erscheinung strahlt von Harmonie. Ich blinzle. Wach ich oder träum ich? Das Wesen bildet sich und lernt von einem Notizheft in ihrer rechten Hand,
während die Linke weich das Smartphone umfängt, als stecke da ihr Schatz drin.
„Dabei ist es nur WhatsApp“, meint mein Begleiter. „Und wenn schon“, verteidige ich sie.
In der Hauptstraße Ecke Kurfürstenstraße in Schöneberg steigt sie aus und sucht Schutz in einem Back und Snack Café. Das täte ich auch an ihrer Stelle. Ich schaue diesen schwebenden Pantöffelchen
hinterher und seufze tief.
Als der Bus den Innsbrucker Platz hinter sich lässt, sind wir im Ausland. Ich kenne mich nicht mehr aus. Ceciliengärten, Insulaner, Leonorenstraße, ein Dorfanger mit Kirche, Lankwitz, du meine
Güte tut das gut, mal aus dem Wedding rauszukommen.
Die Linie 181 bringt uns dann, da wir kein Café finden, vom Halbauer Weg nach Alt Mariendorf, wo es einen lauwarmen Filterkaffee in einer kalten Eisdiele mit gesperrtem Klo gibt. Das ist die
Grausamkeit der Städte.
„Wir hätten in eine Ausstellung gehen sollen“, meckert mein Begleiter, „warum machst du solche abstrusen freudlosen Touren? Ich finde diesen Ausflug zum Kotzen!“
„Ach halt die Klappe“, sage ich, „dir kann man doch gar nichts recht machen. Du weißt ja gar nicht zu schätzen, wie schön die Welt ist, wie sie ist. Und so gefällt sie mir.
(c) Text und Foto: Brigitte Hallbauer
Jesus: Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.
Katze: Lass mich doch einfach nur hier chillen. Der Stein ist so warm.
Jesus: Und wer nicht das Reich Gottes annimmt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
Katze: Reich Gottes? Was isn das? Was labert der da? Soll still sein. Will chillen.
Jesus: Selig sind die, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.
Katze: Oh nee, jetzt nicht auch noch Touristen. Stehen da und glotzen. Hee, ich will chillen. Und weg mit den Kameras, oder erst, wenn ich mir das Fell geputzt hab.
Jesus: Denn die Kinder der Welt sind klüger als die Kinder des Lichts in ihrem Geschlecht.
Katze: Laberkopp! Katzen musst du sagen! Katzen! Wenn schon. Herrje, seit Generationen leb ich mit meiner Sippe auf dem Friedhof. Was denkt ihr denn was ich hier mache? Schwer genug zwischen all den Intellektuellen, die hier rumgeistern, während ich Fuchs und Waschbär die Mäuse abjage. Brecht, Weigel, Seghers, Rau, Brasch, diese Hirnfuzzis sind im Tod noch eingebildet, rauchen Zigarren und streiten sich über nen Katzenscheiß, von wegen wer hat das schönste Grab und wer hat die meisten Besucher.
Aber eins will ich euch sagen, ich, der schwarze Bandit vom Dorotheenstädtischen Friedhof, habe die Herrschaft hier im Revier. Hart erkämpft gegen meine Artgenossen, den Fuchs und den Waschbären. Ich sitze jetzt hier auf dem Stein und meditiere, kapiert? Wer ist hier weise? Wer hat hier Gelassenheit? Na? Aber nein, wer ein schwarzes Fell hat, dem traut man das nicht zu. Knipst nur weiter ihr Deppen…
Jesus: Liebe Kindlein, ich bin noch eine kleine Weile bei euch…
Katze: Ja du kannst dich auch verpissen mit deinen Sandalen. Der Luther läuft dir immer hinterher und will irgendwas von dir. Wenn ich euch nur ans Bein pinkeln könnte oder in die Eier beißen, aber ihr seid ja Geister. Da geht ja alles durch. Gääähn. Ich hab einen Mordshunger…. Ah, da kommt Futter.
Jesus: Lasset die Kätzlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.
Katze. Was hast du gesagt? Sag das nochmal. Hab ich richtig gehört? In Hundertfünftig Jahren gab es das nicht. Kapieren sie es langsam?
Jesus: Lasset die Kätzlein…
Katze: Also gut, wenn das so ist… Von mir aus kannst du jetzt bleiben, . Aber du musst es oft sagen. Sehr oft. Damit auch die Touris kapieren. Und vielleicht lass ich dich eines Tages an meinen Napf. Das dürfen nicht mal Waschbär und Fuchs. Ist das ein Deal?
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Dass die Berliner Trabrennbahn im Wedding liegt, weiß jeder. Deshalb gibt es an am Leo auch so viele chinesische Touristen die sagen dann "Felldelennbahn" und das Stadion in den Rehbergen ist ein
Wald von Selfie Sticks. Früher war das ein Meer von Hüten. Es ist eine Jahrhunderte alte Tradition. Wo Pferderennbahn - da gibt's auch Pferdewetten ... und das organisierte Verbrechen. Im
Wedding liegt es in Frauenhand das erkennt man an den vielen Wettbüros. Früher war da der Mieterverein. die Frauen sind auch nicht mehr das was sie mal waren. Die Hüte, die man neuerdings auf den
Straßen sieht, groß wie Mühlräder und feuerrot, oder rosa Mützen mit Plüschohren. Früher war es der dezente Herrenhut nach Art von Al Capone. So viel zur weiblichen Mafia.
Da stehen sie vor der Rennbahn am Kassenterminal. Mir wird ganz anders, wenn ich das sehe. Die Hüte schreien aus der Menschenmenge heraus. Besonders dieser eine. Riesiger Feuerteller, könnte zehn
Leute beschirmen, macht sie aber nicht. Nimmt nur Platz ein. Es ist die Pferderennen Königin, so nennt man sie im Wedding, nicht nur beim Magendoktor am Nettelbeck, nein, auch bei
Trümmerlotte in der Wiesenstraße. Alle kennen die Mafiabossin von der Pferderennbahn. Ich kenne sie auch. Leider. War sie doch neulich bei mir im Laden. Schutzgeld erpressen wollte sie, und rote
Fingernägel. "Raus!" hab ich gesagt. Am nächsten Morgen lag Hundekot vor der Ladentür als ich aufschloss. Böses Weib.
Ich schau auf die Menschenmenge, die in die Rennbahn strömt, lauter Pferdenarren aus Lübars oder Schönwalde. Naive Landeier. Keine Ahnung. Die haben alle keine Ahnung. Vor dem Wettbüro stehen sie
Schlange und geben ihren letzten Einsatz ab. Die Pferde scharren mit den Hufen, traben in die Bahn, Staubwolken, laute Musik, auf gepeitschte Emotionen. Ein Stadion voll von Mafia Hüten und
chinesischen Selfie Sticks die hin und her wogen. Ich gehe nicht rein. Ich weiß was passiert. Ich will das nicht mit ansehen, was jetzt wieder passiert. Grausam das...
Bus 106. Seestraße Richtung
Lindenhof. Bei Zeemann lustige Strampler für Große gesehen. Nicht Shoppen jetzt. Bushaltestelle vor dem Kino. Hier den Film für nächste Woche im Kalender eingetragen - als wichtig markiert!
Einsteigen… Fahren... eine Reise in vertrautes Gebiet. Mein geliebter Plötzensee. Morgen will ich an deinem Ufer sitzen und träumen. Danach in den Hofladen, Kartoffeln einkaufen aus Stendal.
Beusselstraße, Beusseleck. Hier geht der Beusselmann um. Er ist aus Stahl, Asphalt und stinkenden Hallen. Industriegebiet …grobe Arbeit ohne Schmäh, damit es weitergeht mit dem Konsum.
Moabit: Wohnblock nach Wohnblock, alle gleich, mit Läden gespickt, ich kaufe also bin ich. War hier nicht gleich noch ein neuer Alnatura?
Ein Typ schlendert über die Straße. Finstere Blick, pechschwarzes Haar, der Gang, eine Drohgebärde. Am Telefonkasten ein Bild vom Papst.
Gotzkowsky-Straße... Auf der anderen Seite der Brücke: Charlottenburg, eine andere Stadt. Sie beginnt am der Spreepromenade und führt bis zum Schloss mit seinem riesigen Park.
Der Bus biegt ab. Leute steigen ein. Jetzt riecht‘ s nach Knoblauch. Ich notiere Knoblauch auf meine Shopping Liste. Älterer Herr, bestimmt aus Charlottenburg, kriegt einen Platz angeboten. Majestätisch von Fern der große Stern. Goldelse blinkt blank in der Sonne. Hier ist die Stadt am saubersten. Der Rest versinkt im Müll.
Bei den Botschaften andächtiger Halt im Stau auf Kanalbrücke. Venedig? Amsterdam? ---Berlin! Eine fragwürdige Skulptur. Kriegtrümmer vielleicht. Am Nolli das Goya. Mekka der Schwulen, vier Massagestudios für Männer in einer Straße. Eine Station weiter wurde Praxis Bülowbogen gedreht, Eine Straße weiter treffen sich die Anonymen Alkoholiker..
Potsdamer Straße. Der
Tresor der Techno Szene. Hier vor Little John Bike hatte ich mal nen Platten. Warf den Fahrrad Schlüssel in den Briefkasten und nen Zettel dazu. Hat geklappt. Kaiser Wilhelm Platz.
Schöneberg oh Schöneberg. Samba im Havanna Club, Literatur im Café Bilderbuch, das Stein Reich – der Mineralien und hawaiianische Massagen verbinde ich mit diesem Ort. Von mir aus kann Berlin nur
aus der Akazienstraße bestehen. Würde mir reichen. In einer ruhigen Seitenstraße hab ich den Existenzgründungs Kurs gemacht. Da war eine Hellseherin dabei und eine Kräuterfrau.
Südkreuz. Ab Hier kenn ich mich nicht mehr aus. Eine Autobahn – weit unten. Eresburgstr. … Keine Ahnung. Ist das noch Berlin?
Ich lach, denn mein Smartphone weiß, wie, wie man keine Ahnung schreibt. Sonst schreibt es immer alles falsch. Sage ich la --- schreibt es längstens.
Und lauter so Mist.
Hier ist es wie in den 70ger Jahren. Doch auf Friedhöfen und in Laubenkolonien bleibt die Zeit stehen.
Endstation … Lindenhof...ich bin der einzige verbliebene Fahrgast und steh vor einem Zaun. Dahinter lauter Birken. Stillgelegte Schienen. Dahinter rast ein Fernzug. Vorne geparkte Autos.
Wohnblocks. Oben: Eine Mistelkugel in einer Birke. Und dann…
Lindenhof. Eine Wohnsiedlung der GeWoBau mit
Geschichte, in den Jahren 1918/1921 erbaut. Der Park ist ein geschütztes Gartendenkmal.
Die verwitterte Neogotische Skulptur in der Mitte erinnert daran. Hier haben die Familien im Sommer in dem Burggrabenähnlichen Weiher gebadet. Heute gibt es einen Nachbarschaftstreff auf dem
Gelände. Heißt GeWoHin. Die Leute lieben ihre Siedlung. Das steht auf der Litfaßsäule am Eingang. Ich lasse mir von den alten Bäumen im Park Geschichten erzählen bis ich kalte Füße
kriege.
In der Harkortstr. steig ich ins beheizte Wohnzimmer der Linie 246 und über Tempelhof geht es mit der U6 zurück in den Wedding.
© Text: Brigitte Hallbauer
„Berlin sei eine Stadt, in der nicht geliebt wird“, bemerkte neulich ein guter Freund. Hmmm, sagte ich und dachte ein Weilchen nach: „Ich beweis dir das Gegenteil.“ Und hier ist es:
Der Titel sagt es schon. Es handelte sich in unserem Beispielfall um einen Ersatz für den Verkehr der M13 zwischen Seestraße und … äh… Warschauer Straße. Die Fahrgäste haben gelacht und gejubelt, als sie zu Hunderten in einen Kleinbus drängten zum anonymen Gruppensex. Die BVG rechtfertigt den Kleinbus mit der kürzlich adaptierten modernen Wirtschaftsform, genannt Frugalismus. Wenigr ist mehr. Ein Ticket für diesen gelb-schwarzen Swingerclub kostet nur 2,80 Euro. Na bitte. Billig, aber nicht an Erlebnis-Qualität! Denn zwischen Osramhöfen und Luise-Schröder-Platz kuschelt Frau Zeyneb neben ihrem dreijährigen Jüngsten mit Tim Schuster aus der Oberstufe der Anne Frank Schule, der deodorantfreie Özdemir schlürft Natursekt aus der triefenden Achselhöhle von Sabine Kuckuck, die grad schwarz zu ihrem Termin beim gesetzlichen Betreuer fährt. Julius Juckmich, im Anzug mit dem Tablet fuchtelnd, greift grad noch nach einem Haltegurt, bevor der Bus mit Karacho losfährt und mit Fliehkraft die ganze Mischpoke einmal nach hinten bürstet. Das Auto des Abteilungsleiters bei Karstadt ist in der Werkstatt und in der BVG gibt’s nur dritte Klasse. Doch auch Julius Juckmich sieht das ganze positiv: Menschenwürde wird in diesem Augenblick neu definiert. Im Ganzkörperkontakt erfährt er, wie es so ist, auf Tuchfühlung mit Frau Häberle, die grad vom Urnenfriedhof kommt und leider keinen Sitzplatz mehr kriegte mit ihrem Ischias. Aber ihr Platz auf dem Friedhof ist schon reserviert. Ganze zwei Quadratmeter kriegt sie da für sich allein und darf sogar liegen. Ist allerdings um einiges teurer als Ersatzbus fahren mit der BVG… Und einsamer.
Die Luft ist dick. Der Angstschweiß rinnt. Dort hinten hängt ein Nothammer. Und da wäre dann noch Herbert W., der in dieser alltäglichen Ausnahmesituation vermutlich die größte Erleuchtung unter all den BVG-Opfern hat. Die Hand am Schritt kann er nicht fassen, dass seine lebenslangen Potenzprobleme sich plötzlich in Luft auflösen. Ungläubig betastet er sein schwellendes Glied irgendwo dort unten zwischen dem Aktenkoffer von Juckmich und der Baseball-Tasche von Kevin Triss, dem amerikanischen Austauschstudenten an der Beuth Hochschule. Schienenersatzverkehr poppt! Sein Mondgesicht glänzt wie Speckschwarte und es gelingt ihm, sein Smartphone zu zücken und – von allen Seiten dicht umklammert – er braucht sich gar nicht festzuhalten - zwischen den Köpfen und dem Busdach seinem Therapeuten zu kündigen. Per WhatsApp.
Der Busfahrer indes feuert die Partygäste mit Slogans über die Sprechanlage an: Bitte rücken Sie durch! Machen Sie den Eingangsbereich frei. Rücken Sie einfach noch ein bisschen enger zusammen. Herbert W. erstarrt in seiner Errötung, rückt näher an die14jährige Sina aus Wittenau, schaut sich um und stellt beruhigt fest, dass sich kein Schwein für ihn und seine erotische Not interessiert. Von allen Seiten drücken sie gegen seinen Rumpf, seine Hüften, jemand tritt auf seinen linken Fuß. Ein Kind schreit. Herbert W stöhnt leise. Der nächste Halt: Luise-Schröder Platz. Aussteigende drängen sich mit Ellbogen und Geschubse zur Tür. Einige purzeln freiwillig heraus, um mal Luft zu schnappen und sich die Hosen wieder zu richten. Ein Fahrgast ruft: DER HUND BLEIBT ABER DRAUSSEN!! Eine weitere Frau mit Kinderwagen gibt auf und tritt kopfschüttelnd von der Bustür zurück, die sich ächzend schließt, die Fahrgäste einsperrt und den zuvor unterbrochenen gruppendynamischen Prozess wiedereröffnet.
Zwischen Luise-Schröder Platz und Grünberger Straße passiert es dann. Ein emotional instabiler Fahrgast – Alter und Herkunft sind unklar – erwischt den Nothammer und schlägt ein Fenster ein. Coitus Interruptus! Das gibt aggressiven Rückstau. Hupen! Fluchen! Brüllen! Der Verkehr kommt zum Erliegen. Die Bustüren öffnen sich. Menschenmassen quillen ejakulationsartig heraus. Frauen kreischen am Höhepunkt ihrer Belastbarkeit.
Da sag noch einer, Berlin sei eine Stadt, in der nicht geliebt wird….
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Berlin sei eine Stadt, die nicht funktioniert, schreibt das Zeit-Magazin. Die Behörden, der Müll, die BVG – unprofessionell, verlottert, antiquiert… Besorgt weist mein Bruder mich auf diesen Beitrag ihin. Er habe ihn mit Interesse gelesen. Ist das denn wirklich so bei euch in Berlin?
Kommt drauf an, wo man hinschaut, sage ich. Diesen Beitrag haben kluge Leute geschrieben. An den Unis haben die gelernt, anderer Meinung zu sein, nach Fehlern zu kucken und überall erst mal dagegen zu sein… . Dazu hören sie Blues und trinken Rotwein.
Aha, sagt mein Bruder.
Gut, dass wir diese klugen Köpfe haben, sage ich, und das ZEIT-Magazin ist sprachlich nicht zu toppen. Ich leb ja nur im Wedding. Meine Welt ist klein, denn ich geh an Krücken und an der Uni war ich auch nicht. Aber ich bin heut Bus gefahren. Und davon will ich erzählen:
Mit meiner BVG-gelben Krücke klettere ich in die Linie 142 (der letzte Bus ist an mir vorbeigerauscht, weil der mich übersehen hat im
Bushäuschen) … also ich fahr zum Leo. Das sind vier Haltestellen. Eine halbe Weltreise für Krückengänger! Wie ein Schneekönig wedle ich kurz darauf meinen MRT-Befund, auf den ich 4 Wochen
gewartet habe, und verlasse das MVZ am Leo, um auf die Linie 120 zu klettern, die zufällig vor meiner Nase hält. "Bitte Fahrschein vorweisen" steht auf dem Aufkleber an der Tür.
„hab isch Monatskart“ brabbel ich, humpelnd – der Fahrer glotzt gelangweilt auf die Müllerstraße. Umständlich krüppel ich mich in den Sitz direkt hinter ihm und bring meine Sitzhöcker in rückenschonende Position.
Jetzt wird’s gemütlich: Eine Reisegruppe aus Sachsen will Einzelfahrscheine, das Kleingeld in den behandschuhten Pfötchen. „Keine Fahrscheine mehr, hab Feierabend“, nuschelt der Fahrer. Ja wie, was? Die Sachsen sind bestürzt. „Warten auf Ablöse, Kollege verkaufen Fahrschein.“, beschwichtigt der BVG-ler sie noch. Die Reisegruppe nimmt vorläufig Platz. Der Bus tuckert bei offener Tür. Draußen drängen sich Kunden vor dem Obststand unter dem Gerüst, das seit gefühlt 5 Jahren ein Bauwerk umgibt, das sich im Identitätskampf zwischen Bruchbude und Shopping-Center Nr. 75 befindet.
Da steigt ein älterer Herr in Strickjacke ein. In Plauderstimmung begrüßt er den Kollegen und packt seine große Tasche aus. Ich tippe auf gut gelaunte Altersteilzeit. Noch während er seine BVG-Jacke überzieht, und der Kollege in den Feierabend geht, stürzen die Sachsen auf ihn zu: „Vier mal nach Berlin Hauptbahnhof bitte!“.
„Langsam langsam, wir sind doch hier bei der Arbeit und nicht auf dem Sklavenmarkt“, wimmelt er ab und setzt sich ins gut gefederte Cockpit, wo er sich lange und ausgiebig wie eine Katze, in die passende Sitzposition rückt. Ob der‘ s auch an den Bandscheiben hat? Die Sachsen drängeln noch immer: „Aber wir haben noch keinen Fahrschein!.
„Setzen Sie sich, ich nehm‘ Sie heut‘ so mit“. Der Fahrer winkt sie ungeduldig in den hinteren Teil des Busses, denn neue Fahrgäste drängen nach. Auch die klimpern mit Kleingeld. Und weil er schon am Winken ist, winkt er die auch noch durch. „Komm‘ se rin, geh’n se durch. Gibt keine Fahrscheine heute.“ Die Fahrgäste witzeln: Gibt‘ s heut‘ Touristen-Bonus?
Die Tür steht noch immer offen. Ungeduldig klappere ich mit meiner BVG-gelben Krücke gegen die Rückwand des Cockpits. Wann geht’s denn los?
Dann kommt der Knaller: Eine junge Frau im Designermantel steigt ein, Headphones in den Ohren. Mit ihrer Schwarzrandbrille glotzt sie tief in ihr Smartphone und findet blind die Stufe in den Bus. Auch sie guckt den Fahrer nicht an und murmelt„Warten se mal, ich hol mir grad ein Ticket“. Sie bleibt stehen. Die Tür schließt. Der Busfahrer will durchwinken, aber sie wischt auf ihrer APP rum. „Die hat wohl Geld übrig“, lästert ein älterer Herr hinter mir. Nur der Fahrer bleibt freundlich und fordert sie ruhig aber bestimmt auf, sich doch jetzt zu setzen, er wolle losfahren. „Na gut, dann mach ich in aller Ruhe“, murmelt sie: „Ja, machen se in aller Ruhe“, sagt der Fahrer und fährt los.
Ah! Fahren! Gerichtsstraße, Fennstraße, Reinickendorfer Straße, Bundeswehrkrankenhaus. Dort steig ich aus, winke dem Bus hinterher mit meiner BVG-gelben Krücke und geh in mein Lieblingscafé.
Ich weiß nicht, wie viel Papier die gewälzt haben beim ZEIT-Magazin, um diesen Berlin-Artikel für meinen Bruder zu schreiben. Meine heutige Recherche war lustig und ergab: Berlin ist voll Klasse. Wer es natürlich ordentlich haben will, muss nach Stuttgart oder München. Viel Spaß!!
(c) Text und Foto: Brigitte
Hallbauer
…. Konnte die Wissenschaft noch nicht abschließend beweisen. Dennoch halten die Gerüchte sich hartnäckig.
Die Berliner Lesebühne „Brauseboys“ haben im Kookaburra Comedy Club eine rasante Jahresabschieds-Show hingelegt. Alles, was in diesem Jahr durch die Presse ging, wurde durchgeklappert. Sämtliche Schandtaten von Donald Trump in einer Anklageschrift verlesen und das Idol Luther erhielt einen mächtigen Image-Knick. Nur der Abschied ist sicher, hieß es zum Schluss. Und: Ein Scheißjahr sei es gewesen.
Ich nehme grade Nachhilfe: Das Weltgeschehen im Satireformat, während ich am „Tannenzäpfle“ nippe und ein paar Kekse knabbere mit Blick auf die Bühne. Eigentlich hatte ich mit einer Lesebühne gerechnet, wo man so dies und das aus dem Munde von Berliner Originalen hört. Die Brauseboys haben viel Zeitung gelesen. Sie sind zu Intellektuellen konvertiert, nur das zwielichtige Jungtalent Thilo Bock, konnte mit fulminanten Nummern zum Amazon-Lieferservice und zur BVG noch betroffene Lacher im Publikum wecken, das ansonsten eifrig mitschrieb und Ostereier gewann für die richtigen Antworten im Quiz. Brav studiert! Bittersüßer Untergangs-Humor wurde in Berlin zuletzt 1920 gesichtet.
Was ist wirklich passiert in diesem Jahr? Da erlaube ich mir den Luxus, mir meine eigene Welt zu schaffen. Dass es bergab geht und bald richtig knallt, wissen wir ja. Aber muss ich mich damit beschäftigen? Das schadet der Leber. Ich geh schwimmen und schwitz den Dreck verlorener Illusionen aus meinen Poren zum Birken Aufguss mit Salz. „Das Leben ist ein Aderlass“ dichtete Frank Sorge.
Vom Breitscheidplatz her duftet es nach gebrannten Mandeln, während ich durchs dampfende Wasser ziehe unter dem rotierenden Mercedes Stern mit Blick auf den kaputten Turm der Vergesslichkeitskirche. Das Waldorf Astoria gibt Rückendeckung. Der Himmel ist stahlgrau und steht still. Das Tageslicht fehlt jämmerlich.
Danach versuche ich, beim Tee 2017 zusammenzufassen, das sich allmählich von Farbe in Schwarz-Weiß verwandelt und in der Ferne verschwinden wird, wie die Jahre davor.
Mir ist oft schlecht geworden von neuen Nachrichten in diesem Jahr. Manchmal waren sie unverdaulich und ich spie sie wieder aus. Ich habe dabei einen Weisheitszahn verloren und die 66 –Seen– Wanderung beendet. Das Reisen hat meinen Blick geweitet und die Dankbarkeit genährt. Jene erscheint mir geradezu ein Lebenselixier. Amaroo war die Chance meines Lebens. Ich hab sie ergriffen. Und nein, es hat kein Diplom dafür gegeben.
Ich habe Kurse besucht, in denen man versucht hat, mir die Gesetze von Profit und Gier zu vermitteln. Sie hätten mich fast drangekriegt. Doch dann wurde mir wieder schlecht!
Ich habe hinter die Kulissen von REWE geschaut und geknechtete Menschen, Tierquälerei und Etikettenschwindel entdeckt. Ich habe die Bibel gelesen, weil ich mir nur ein Urteil über Dinge erlaube, die ich kenne. Ich freu mich schon auf das gute Buch, das ich als nächstes lesen werde. Lieblich und leicht ging mir das Studium hawaiianischer Heilkunde von der Hand und nebenbei habe ich überraschend viele Lomis gegeben. Danke für euer Vertrauen. Ich bin vielen neuen Menschen begegnet und fühle mich unendlich bereichert. Auch hier sage ich einfach nur danke.
Das Jesuskind war ein Mädchen. Ja warum auch nicht? Alles, was unsere ach so christliche Kultur wirklich wirklich ausmacht, ist die Macht des Gefühls, die unerbittliche Durchsetzungskraft des Herzens, die heilende Kraft der Berührung und das Licht unseres Atems. Alles andere funktioniert nicht. Die Bibel ist ein politisches Machwerk. Ich lerne, zwischen den Zeilen zu lesen. Erlösung ist weiblich! Wer kämpft da noch? Lasst uns unseren Verstand im Einklang mit dem Herzen nutzen.
In diesem Sinne! Frohe Festtage!
Gestern Abend, als ich grade meinen riesigen Hexenbesen nach Hause trug, kam mir eine Horde maskierter Kinder entgegen. Ich bekam furchtbare Angst und floh in mein Haus, verrammelte die Tür und
schlug drei Kreuze. Sie hatten grausig angemalte Gesichter, Fledermausflügel, der Älteste hatte ein Messer, das seinen Kopf durchbohrte. Oh je. Schon ölte ich meinen Hexenbesen ein, als es
plötzlich wild an die Tür klopfte. Also gut, dachte ich, ich werde mich dem Kampfe stellen: Ich griff nach meiner Keksdose und hoffte, der kärgliche Inhalt würde
reichen. Dann riss ich die Tür auf und brüllte: "Haaaaa!" und "Huhuuuuu!". Die Geisterhorde wich zurück, dem Kleinsten fiel der Schnuller aus dem Mund.
Mit Schwung öffnete ich die Keksdose, griff einen Haribo-Schnuller und stopfte ihn dem Mini-Gespenst ins Mäulchen. DA! Dann holte ich meine letzte Lakritzschnecke
und drückte sie dem kleinen Sensenmann mit der schwarzen Kapuze in die Hand. DA! Nun die Marzipankartoffeln: Eine nach der Anderen griff ich vom Boden der Dose und bewarf die Horde des Schreckens
damit. DA und DA! und DA!. Sie waren geschickt. Sie fingen sie auf und quietschten vor Vergnügen.
FRIEDE MEINEM HAUS!! rief ich.
Da fasste das zweitkleinste der Gespenster Mut und fragte: "Was machst du mit dem langen Stecken?"
"Oh den hab ich eben von einer Platane geschenkt bekommen. Das ist mein Hexenbesen und auf dem reite ich heute nacht noch zum Mond!"
"Wie machst du das?" kam nun die schüchterne Frage.
"Ich öle ihn ein und räuchre ihn mit Salbei und dann singe ich so lange, bis er sich in die Lüfte erhebt", sage ich hinter vorgehaltener Hand, "aber
psssst...."
"Du bist eine Hexe", sagt ein älteres Geisterkind und kriegt große Augen.
"Eine richtige Hexe".
Und ich hebe die Arme. Die HÄnde daran werden zu riesigen Krallen und ich rufe mit Krächzestimme: "HUUUH und HAAAAA und HOHOHOOOOOOOO".
Da ergreift die Geisterhorde Panik und wie eine zerlumpte Wolke trappeln die kleinen Füßchen die Treppen hinab. Meine Marzipankartoffeln haben sie alle
gemacht.
Friede meinem Hause!! (c) Text und Foto: Brigitte Hallbauer
ein Mensch watet durch knietiefes Wasser am Bundesplatz und versinkt in einem offenen Gulli. Die Flut hatte den Deckel gelöst. Eine Weddingbürgerin (nicht zu verwechseln mit Weltbürgerin) steht mit ihrem asymmetrisch designten neuen Schirm an der Ampel bei der Baustelle hinter der Fennbrücke und… da kommt der Windstoß. Ich sehe sie rennen.
Ein Mensch in Badehosen schwimmt durch den Gleimtunnel. Am Rand tragen barfüßige Passanten ihre Schuhe.
Beileibe kein Hängemattenwetter, selbst die Junkies chillen schon in fremden Hausfluren und werden von Hausbewohnern im Schlafrock freundlich aber bestimmt wieder hinaus in den Regen komplimentiert.
Die Straßen sind leer zwischen den Regengüssen, die an Arche Noah Zeiten gemahnen. Beim Späti ratscht der Rolladen runter und in den Wohnungen meines Mietshauses höre ich heute auffallend oft Staubsauger ihr lange fälliges Werk tun.
Wenn die Berliner gezwungen sind, zu Hause zu bleiben, kommt ihnen dit janz janz komisch vor. Kommt aber vor. Zeit mal wieder aufzuräumen und ein paar Hausaufgaben nachzuholen. In der einen oder anderen Vorkriegswohnung wird es auch nötig sein, den Wassereimer unter die tropfende Decke zu stellen. Wohl denen, die ein dichtes Dach haben.
Mal sehen, ob der Siebenschläfer recht hat. Von mir aus kann die Sonne morgen wieder die Stadt braten. Dann hock ich sofort wieder im Café mit meinem Buch.
Als ich nach Berlin zog, befand sich dieser Bahnhof noch im Bau. Immer wenn ich daran vorbeiging, strahlte die überdimensionale Baugrube mit Absperrungen, Materiallagern, Riesenkränen, Schmutz und Baggern nichts als Öde, Mühsal und Frust aus. Ich weiß noch, wie albern ich es fand, dass man extra für interessierte Passanten, einen kleinen Ausguck in Gestalt eines Treppchens machte, der einen Blick über den Zaun erlaubte.
Schon kurz nach Eröffnung warfen der Amoklauf eines 16-Jährigen und dem Bruch zweier tonnenschwerer Stahlträger bei einem Sturm einen Schatten auf dieses architektonische Vorzeigeobjekt menschlicher Hybris.
Doch das ist mittlerweile vergessen. Seit vielen Jahren dient mir der Berliner Hauptbahnhof als Startrampe meinerReiselust. Schon nach 5 Minuten Busfahrt stehe ich mit meinem Rucksack davor. Auch heute lockt der prunksüchtige Stahl-Glas-Koloss kühl und rein in der Morgensonne mit den wildesten Versprechungen.
Mein Herz klopft und mein Atem weitet sich beim Betreten dieses Tors zur Welt. Schon löst sich die Alltagslast von meinen Schultern, die ich zuvor gar nicht gespürt habe. Aber nun … wie leicht plötzlich alles wird … und die Freude ist so echt wie bei einem Kind, das jetzt gleich ein Eis kriegt.
Es ist Sommerzeit… Reisezeit… die stille Herrgottsfrühe duftet nach Kaffee und Holunderblüten und leise aber geschäftig rollen die Reisenden ihre Köfferchen über den Asphalt in ihren Pfingsturlaub. Wer schlau ist nimmt den frühen Zug und kriegt einen Fenstplatz, wo noch ein Nickerchen möglich ist, zusammengerollt auf zwei Sitzen, bevorder Bordservice mit dem Kaffee kommt.
Ich reise um 5:30 Uhr. Wohin und wozu wird im nächsten Beitrag verraten …
Manchmal fühlt es sich komisch an, Urlaub zu nehmen vom Virtuellen Hotel Harakiri und einen Ausflug in die Realität zu machen. War ich doch neulich auf so ner Party und hab dauernd gedacht. Das Gesicht kennst du doch. Hundertmal ist dieses Profilfoto an dir vorbeigezogen an langen Abenden in der Lobby. Und dann bewegt es sich plötzlich und spricht und hat eine Stimme, Augen, die blinzeln und irgendwie ist es, als hätten wir seit hundert Jahren vertrauten Umgang.
Immer wenn ich einen Ausflug in die Realität mache, gehe ich irgendwo hin, wo ich noch nie gewesen bin. Heute war es dieses kleine indische Restaurant in der Kantstraße Ecke Kaiser-Friedrich Straße, mit dem Direktor. Der Direktor ist älter als Facebook und brachte Ingwerstäbchen von der Konditorei Amendt mit. Das indische Essen erinnere ihn an seine Zeit in Muttenz, wo er einer der Starköche gewesen sei, indisch natürlich. Ich war bei Okra und Mango Lassi doppelt freundlich zum jugendlichen Servicepersonal, um abzufedern, wie der Direktor sie rumkommandierte. (Darüber wird er jetzt zetern, aber das macht nix).
Ja und dann landeten wir im Delphi, wo ein Konzert mit einem gewissen Jad Fair im Quasimodo stattfinden würde. Keine Ahnung, wer das ist. Ich steh auf Bach und Strawinsky. Der Herr Direktor ist meist pikiert, wenn ich seine Promis nicht kenne. Dann kam da so ein lieber kleiner Pudel-Typ mit Koffer und ein paar Begleitern um die Ecke. Das ist er! Schon stürzte Stefan mit 5 Belegexemplaren der gemeinsamen Hörspielproduktion auf den Pudel zu um mich dem Kopf von Half Japanese vorzustellen. „Sind wir nicht auf Facebook befreundet?“ fragte ich. Der Typ nickte prophylaktisch, denn die Wahrscheinlichkeit ist hoch. „Kommst du in unser Konzert?“ wollte er dann wissen. Als Star sprach er natürlich amerikanisch.
„Ich bin dann mal im Kino!“ rief ich und winkte, während der Direktor mit Promi und Gefolge zum Soundcheck in den Quasimodo-Keller stieg. Der Vorhof des Kulturtempels hüllte die Besucher in einen
aphrodisierenden Nebel von Akazienblüte.
Im Kino lief „Beuys“. Warum ich mir ein Ticket kaufte, weiß ich auch nicht. Schon wieder schwarz-Weiße Archivbilder von Fettecken und Kunstaktionen mit Koyoten und toten Hasen aus Zeiten, als ich noch in Windeln lag. Hundertmal gesehen. Aber nein. Diese wachen klaren, durchdringenden Augen, diese Mimik, die sich ständig um den Schmerz herumbewegt, durchlässig wie das Universum, dieses ruhige beharrliche Durchziehen der eigenen Mission trotz übelster Angriffe und Anfeindung, dieses, radikale Engagement für die Kunst als politisches System und Demokratie durch Volksabstimmung… Sätze wie: SCHON EIN GEDANKE IST EINE SKULPTUR MIT DER WIR UNSERE WELT SCHAFFEN… JEDER MENSCH IST KÜNSTLER …. WENN MAN NICHT VERSCHLISSEN IST, BEVOR MAN STIRBT, HAT ALLES KEINEN SINN GEHABT. ICH WURDE ZURECHT GESCHOSSEN (Kriegsverletzungen). Solche Sätze, zusammen mit der heiligen Anarchie dieser Persönlichkeit, sind heute für mich bestimmt. Wir könnten weiß Gott mehr Anarchie, Verrücktheit und Mut gebrauchen, wenn sie im Dienst unserer Lebensaufgabe steht. WAS IST DEINE?
(c) Brigitte Hallbauer für Text und Bild
Arm aber sexy, munkelt man über die Berliner Mentalität. Trotzdem wurde auf dem Motivationsseminar für Kleinunternehmer eine halbe Schule (na ja fast) für die Slums von Nairobi, Kenia gespendet. Mit viel Tschaka, High Five und "You' ve got the Power" wurden dann auch die Berliner Startups aus der Duftmulde gescheucht und zum positiven Denken verführt. Eine Fortbildung im Stil von TV Show und Rock-Konzert. Die schweißtriefenden Bühnenstars liebten ihr Publikum so sehr, dass es ihnen das Herz brach, wenn auch nur einer KEIN Seminar im Wert von 3000 Eur bei ihnen buchte, das noch während der Buchung immer billiger wurde.Wer da nicht kauft ist blöd... oder eben arm aber sexy. Ähem. Das Personal von Hotel Harakiri hatte alle HÄnde voll zu tun, die zerbrochenen Pfeile einzusammeln, die die Gäste an ihren Hälsen geknickt hatten.
Aber Hallo!! Ab morgen wird früh aufgestanden und gehammert und gesichelt statt gejammert und gepichelt. der 5-jahresplan zur Umsatzsteigerung steht und die Visionen purzeln wie nix aus genialen Hirnen. Jeder hat eins. Und die Hühnerställe der Region sind voll von Adlern, die wie Hühner aufwachsen.
Der Verkaufsmotivator sprang in die Luft und zitierte orientalische Weise: Wer nicht tanzt ist tot. Bei all dem Fäuste schwingenden Krach - Bumm Testosterongehabe mussten sich ein paar Mädels doch mal vor die Tür des Estrel Hotels absondern und ihren eigenen Geschäftsstil feiern: Tanzen!!!
Ich fege die Silberkonfetti aus dem Friedrichstadtpalast aus meiner Wohnung und lächle verträumt, wenn ich an die fantasiereiche und verschwenderische Kostüm-Parade denke, die Artisten unter
Einsatz ihres Lebens auf der Show-Bühne gegeben haben am vergangenen Donnerstag. Jean-Paul--Gaultier hat sie entworfen und selbst Modemuffel wie mich auf den Geschmack gebracht. Der Mensch ist
ein Kunstwerk, welches durch Kleidung erst benannt wird. Doch jetzt ist Wochenende. Schnell bei Alnatura und im Türkischen Supermarkt die Wochenvorräte eingekauft, die Wohnung aufgeräumt und dann
nix wie weg an die Sonne.
An den zahlreichen Ufern der zahlreichen Gewässer in und um Berlin scharen sich die Menschen. Dort wird Shisha geraucht und Arabisch gesungen, hier wird Bier getrunken und Sprüche geklopft. Am
Berliner Dom stakt eine Braut in sehr hohen Pumps und einem Krinolinen-Kleid, das sie krampfhaft festhält, hinter ihrem frisch Angetrauten hinterher und hat Mühe Schritt zu halten. Auf der Brücke
posiert ein weiteres Hochzeitspaar vor einem Fotografen. Zwei Teenies schieben einen Lautsprecher mit türkischer Musik, stellen ihn am Spreeufer ab und fangen an zu tanzen. Durch die Straßen
kurven hupende Konvois mit Blumen auf den Kühlerhauben. Vor den Eisdielen hängen Menschentrauben. Es ist der erste April. Im Volkstheater läuft „FAUST“. Hm, könnte ich eigentlich auch nochmal
hin. Mich zieht es aber jetzt zu Humana, Designer Klamotten aus den Wühlkisten graben, (Das ist wie Ostereier suchen). Kein Kostüm für die Bühne allerdings, sondern mehr so für die Straße, wo der
Mensch kein Kunstwerk sondern Konsument ist . Auch hier Menschentrauben, die anstehen bei den Anprobe-Kabinen und an der Kasse. Vor der Tür ein Security Mann (so auch bei Alnatura heute Morgen um
8:30)
Am Alexanderplatz ein Massenauflauf an Einkaufenden, Straßenmusikerinnen und Fressmeilen. Hier ein Didgeridoo mit Schlagzeug, dort ein Rapper, und drüben bei Primark eine Percussion Band.
Radfahrer, bimmelnde Straßenbahnen, Menschen mit Einkaufstüten... ich ergattere einen freien Platz im Straßencafé und genieße guten Kaffee und Szenerie. Im Smalltalk mit einem Ehepaar aus Kiel
erfahre ich, dass morgen der Berliner Halb-Marathon stattfindet. Über 30.000 Menschen werden erwartet. Die Innenstadt wird gesperrt sein. Der Lauf beginnt am Alex. Was beginnt nicht alles am Alex
und hat dort nicht alles begonnen oder geendet. Die Geschichte von Franz Biberkopf zum Beispiel, der aus der JVA Tegel kommend ein feiner Mann werden wollte.
Jedenfalls treffen sich an der Weltzeituhr wieder jede Menge Pärchen und solche, die es zu werden hoffen.
„Und was machen Sie morgen?“ fragen mich die Marathon-Teilnehmer aus Kiel. „Nix wie weg aus Berlin“ sage ich und verrate nicht, wo meine Wandertour hinführen wird.
Durch die fahrradfreundliche Linienstraße radle ich dann nach Hause mit ein paar brandneuen Designer-Stücken von Humana.Und heute abend wird ausgegangen ...
Wer in Berlin U-Bahn fährt, kann leicht an Psychose erkranken. Denn plötzlich hört der sensible Fahrgast Stimmen. All diese Stimmen, die aus ferner Vergangenheit vertraut herüber tönen und Erinnerungen wachrufen an die Poster von den Stars und Sternchen, die wir damals im Kinderzimmer hängen hatten und denen wir auf dem Roten Teppich zu Füßen lagen: Udo Lindenberg, Marius Müller-Westernhagen, Brigitte Grothum. Nicht jede BVG Kundin erlebt ein spirituelles Erwachen, wenn Udo Lindenberg, Anastasia und Otto Waalkes die Bahnhöfe ansagen. Für andere wieder gilt: Wenn Träume wahr werden, dann in der U2 nach Pankow. Aber Vorsicht, vielleicht hört ihr auch einfach Stimmen...
Wach ich oder träum‘ ich? Fragte sich jüngst Daphne Elfenbein, als sie von der Bülowstraße zum Alex fuhr und plötzlich Dieter Hallervorden mit der ihm eigenen überspannten Fröhlichkeit durch die Sprechanlage tönte: „Unser nächster Halt ist … Mohrenstraße!“, wobei der Komödien-Opa auf dem „o“ 2 Sekunden lang stehen blieb und sich fast überschlug.
„Möhrenstraße! Das heißt Möhrenstraße!“ krähte Frau Elfenbein geistesgegenwärtig und schnaubte: „Unverschämt, nicht mal in Ruhe U-Bahn fahren kann man, ohne von Promis belästigt zu werden.“
Sofort erhob sich eine Dame mit der Fusseljacke, dem schütteren Haar und der Jute-Tasche von Bio Company und korrigierte: „Mohrenstraße! Das ist Dieter Hallervorden, der muss es ja wissen.“ Dabei klappte ihr Schnappsitz mit einem Knall nach oben.
„Möhrenstraße!“ nun überschlug sich fast die Stimme von Daphne Elfenbein, die es besser wusste als diese pensionierte Oberlehrerin vom Begabtengymnasium. Schon drehten sich zahlreiche Fahrgastköpfe mit unbeweglichen Gesichtern aus dem schnell dahinfahrenden Wurm nach dem Krisenherd in der Mitte des Zuges. Ein noch nicht ganz Untoter lächelte fein. Die Oberlehrerin klappte ihren Sitz wieder herunter und wiederholte: „Das heißt Mohrenstraße! Ich muss es doch wissen, ich bin schließlich von hier.“
Möhrenstraße!“, brüllte Frau Elfenbein.
Mohrenstraße“ brüllte die Schulklassen-erprobte Fusseldame, „das kommt von den 150 Mohren, die Friedrich Wilhelm I 1715 von den Holländern erhielt…
Rassistin!“ brüllte Frau Elfenbein.
„Schwabenpest! Raus aus Berlin!“ brüllte die Fusseldame.
„Reaktionäres Laubenpieperpack!“ brüllte Frau Elfenbein zurück.
Die Fusseldame stand auf und spie recht feucht und giftig: „MOHRENSTRASSE!“
„MÖHRENSTRASSE!“, „ich hab die Punkte doch selbst gemalt.“
„Hilfe! Hilfe! Ich werde belästigt!“ wandte sich die renitente BVG-Kundin nun an die zusehends verlegenen Mitbewohner der U2 nach Pankow.
„Die muss verrückt sein“, war ihr letzter Gedanke, bevor Daphne Elfenbein die Sicherung durchbrannte. Mit einem kräftigen Schwung weit ausholend haute sie ihre Handtasche (die mit den Nieten) gegen den Kopf der renitenten Rentnerin. Prompt fiel der Kopf und rollte den Gang entlang bis er unter einem Sitz neben dem Feuerlöscher liegenblieb.
„MÖHRENSTRASSE!“ zischte sie.
Das war denn doch zu viel. Der ganze U-Bahn-Zug geriet in Aufruhr. Jemand zog die Notbremse. Man war schon beim Märkischen Museum, die Stimmen von Anastasia, Sascha Hingst und Otto Waalkes bereits verklungen.
Für Daphne Elfenbein wurde das aber alles ein wenig zu viel. Beim Alexanderplatz musste sie von der BVG-Sicherheit aus dem Zug getragen werden zur notärztlichen Versorgung mit kostenlosem Kaffee und ein paar Ditsch-Brezeln mit Käse und Speck. Von der rassistischen Oberlehrerin, welche in ihrer Psychose die Berliner Straßen umbenennen wollte, fehlt bis heute jede Spur.
Durch den Tag tappen ohne Aufgabe, ohne Ziel, sich treiben lassen und dem Instinkt für Wohlbefinden folgen, der Körper kennt den Weg. Es reicht, am See in der Sonne zu sitzen und die
Bilder der vergangenen Tage vorbeiziehen zu lassen, die Intensität der Begegnungen, das Glück der Momente beim Austausch von Blicken, Umarmungen, lieben Worten nochmals Revue passieren zu lassen,
dabei tief durchatmen und auch die Erschöpfung einer anstrengenden Woche spüren, Nichtstun, leer werden... Ein Kaffee draußen vor der Bäckerei, es ist noch kalt in der
Märzsonne. Sie macht so indiskret den Staub in meiner Wohnung sichtbar und drängt mich zur Tat. Nääää, keine Lust.
Möchte lieber in den Mauerpark, der Nachmittagssonne gegenübersitzen und Apfeltee trinken. Ah das tut gut. Unten eine Trommelband, umringt von einer tanzenden Menge, aus der Rauchwölkchen
aufsteigen. Es riecht nach Gras. Die tanzen richtig toll und die Stimmung ist riesig. Alle aufstrebenden Künstlerinnen Berlins sammeln sich hier, um ihre Gabe zu zeigen, eine Vision in den
hungrigen Augen, rotnasig und geduckt zwischen mageren Schultern, weil es so kalt ist. Jongleure, Malerinnen, Graffitikünstler, Musikerinnen …
Eine junge Frau bietet Zeichnungen an, in denen das Weltall menschlicher Seelenzustände in atemberaubender Tiefe durcheinanderwirbelt. Daneben magisch anmutende Schmuck-Amulette, als seien diese
eben aus einem Pyramidenschatz geborgen worden.
Ein Venezuelaner italienischer Herkunft malt entspannt lächelnd Hände und immer wieder Hände. Hände, die aus der Erde wachsen, Hände, die zugreifen, Hände, die sich öffnen, Hände die aus
dem Meer steigen, Hände in allen Zuständen des Seins.
Und dann eine Sängerin, Merryn Jeann, die ihre Songs auf die Straße gießt, mit einer Stimme, so zart und süß schmelzend wie Vanilleeis mit Sahne. Was für ein Talent. Möge sie mit ihrer Musik noch
viele Menschen in Schwingung versetzen so wie heute.
Als ich nach Hause komme, koche ich mir erst mal ein fürstliches Menü: Hähnchenbrust in Butter, Knoblauch und Rosmarin kross gebraten, dazu Bandnudeln, Paprikagemüse und ein Salat mir selbst
gezogener Kresse. Nun hab ich sogar noch Lust, meine Wohnung zu putzen. Wer hilft mit?
Dieses Wochenende hab ich die Wahl. Wie alle Anderen suche ich nach Entspannung. Doch selbst Entspannung wird zur anspruchsvollen Managementaufgabe in dieser Stadt, ist es doch schwer, eine
Auswahl zu treffen unter der Lawine von Angeboten, die alle mit vollmundigen Versprechungen locken. Das Entspannungsgeschäft gerät beim in der Wellness-Industrie verlorenen Individuum zur
anstrengenden Mission unter der Überschrift Selbstfürsorge. Am Ende ist der Geldbeutel leer, das Wort "Entspanung" wurde viele Male in den Mund genommen und der
Mensch ist ganzheitlich erschöpft.
Da bleib ich doch lieber daheim und tu gar nichts. Ja, richtig gelesen: NICHTS. Welchen Teil von Nichts verstehst du nicht? Also meine Mutter sagte immer: "A silbernes Nindele un ä goldenes
Näanewägele". Das ist Dialekt aus dem Hochschwarzwald. Ihr müsst es nicht verstehen. Ich und meine Geschwister, wir verstehen das, es reicht auch. Heute morgen mit meinem Bruder darüber
gesprochen, wie Mama Mohnkuchen gebacken hat und dass sie für Käsekuchen Magerquark und geriebene Zitronenschale verwendet hat. Und Rosinen. Und wie wenig die Schwäbische Bäckerei in der
Triftstraße mich an Schwaben erinnert. Doch das nur nebenbei.
Wenn ich zurückschaue, ist dieser Tag des Nichtstuns auf unauffällige Art und Weise sehr ereignisreich gewesen und endet mit einem Gefühl tiefer Dankbarkeit, ein wenig Reue, nicht beim
wöchentlichen Freunde-Treffen gewesen zu sein, auch nicht beim Hula-Tanzen, nicht in der tollen Ausstellung in der Gemäldegalerie am Kulturforum, noch beim Neumondritual oder beim Klavierkonzert
in den Uferhallen. Mein Gott diese Stadt macht mich verrückt oder sie lehrt mich das Nein sagen, sie ist Himmel und Hölle zugleich, skurril, weil Erntedank gefeiert wird, nachdem wir alle bei
Lidl, Penny und Kaisers, Rewe und Netto reich geerntet haben, fortschrittlich, weil hier alle Religionen zu einer großen globalen spirituellen Bewegung zusammenfließen unter dem Flügelschlag der
Goldelse und zerrissen, weil auf dem Prenzlberg sich die Berliner und Schwaben in den Haaren liegen und der Fremdenhass schon im eigenen Land beginnt, und das unter ganz und gar aufgeklärten
Leuten, die ein Herz für Flüchtlinge haben.
Nun ja, das ist eben Berlin auf meinem bescheidenen Blickwinkel. Wer etwas hinzufügen möchte, kann das gerne tun. Meine reiche Ernte aus den frühherbstlich zerzausten Rehbergen seht ihr auf dem
Foto.
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Eierlikör-Schnitte, Badischer Wein, Schwedisches Hafergebäck … Bald werden wir uns um den letzten Liter Milch schlagen im leeren Regal von Kaiser´s. Sie bereiten uns schon darauf vor. Sie zeigen uns wiederholt „Independence Day“ oder „Die kommenden Tage“. Sie füttern uns mit Terror Nachrichten und reichen Schlafmittel dazu. Wir fressen das alles gern und sind stolz auf unsere Einsicht, rühmen unsere Akzeptanz. „Ja ja“, sagen wir, „wir werden untergehen. Gib mir mal die Fernbedienung… und eine Eierlikörschnitte.“ Süß ist sie, herb und etwas ölig, leicht faul schmeckt sie und gleitet mit einer Überdosis Zucker den Schlund hinab, in dem schon so Vieles achtlos verschwand. Sie hinterlässt ein Prickeln, das uns entschädigt für all die unverrichteten Dinge, die wir zurücklassen. Endlich hat es ein Ende mit der Aufschieberei, dem schlechten Gewissen. Und dann fangen wir an zu beten, zu einem Gott, den wir grade gebrauchen können:
Oh Herr, lass uns nicht ohne Milch sterben, die wir so gern in meinen Kaffee tu. Aber lass es H-Milch sein, die andere schmeckt zu sehr nach Kuh. Oh Herr, mach dass es nicht wehtut und dass uns die Schlafmittel niemals ausgehen, verschone uns mit der Erkenntnis unserer selbst, denn wir haben genug damit zu tun, Andere zu kontrollieren.
Es gäbe noch so viel sagen, doch wir müssen los, bei Karstadt ist Schlussverkauf, ein Outfit kaufen. Denn wir wollen anständig aussehen, wenn der Tod uns abholen kommt in Gestalt einer großen giftigen Wolke.
Ach wenn wir nur wüssten, welche Währung nun gilt auf dem Mars. Wenn wir wüssten, ob sie dort Kreditkarten nehmen. Wenn wir nur wüssten, was unsere Aktien dort wert sind. Wir würden gewiss ruhiger schlafen. Aber so… gibt es nur noch einen Steirischen Rosé, ein biologisches Sushi, ein veganes Soufflee. Topf und Pfanne sollen gefüllt sein. Das Haus der Hundert Biere hält noch viele Wunder bereit und noch lange sind nicht alle Freuden gekostet. Ihr wisst, was ich meine, das Erdbeer-Baiser, der feurige Rausch, die exotische Brise, das heimliche Deja-Vu.
Oh ja, wir geben acht, dass die Sinne nicht stumpf werden, das schmälert die Lust. Wir geben acht, dass Vielfalt sei in den Genüssen, denn das Immergleiche schafft Gewöhnung und Gewöhnung macht stumpf. Wir sind neugierig. Zu immer neuen Ufern des Genusses brechen wir auf, die man uns nahezu kostenlos bietet von links und von rechts, bevor alles einbricht und ein Schlund, der schon lang nichts mehr gefressen hat, uns in die Tiefe reißt, aus der wir nicht wieder auftauchen.
Eierlikörschnitte, Badischer Wein, Schwedisches Hafergebäck Adieu. Wir haben euch geliebt mehr als gut war. Oh unser Absturz wiegt schwer und es wird dauern, bis die gute Erde das alles verwandelt hat. So sei es.
© Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Mit Augen an meinen Fingern dehne ich blaue Teiche an ihren goldenen Rändern. Sie duften nach Licht an und die schwarzen Löcher wiegen schwer unter dem weißen Stein. Auf meiner Zunge zergehen sie und sind meine ureigenste schwerblütige Schöpfung.
Kastanien säumen den Weg. Ein dichtes Dach aus grün-weißen Liedern wölbt sich über jedem Schritt, der mich hinab führt, hinab ins feurige Herz der Erde, wo ich meine Wurzeln tiefer treibe Jahr um Jahr. Die Kastanien sprechen zu mir. Sie sagen „Liebe“ und noch einmal „Liebe“ und wieder „Liebe“. Ich verstehe ihre Sprache nicht. Es klingt ein wenig wie die Lieblings-Strophe des Buchfinken.
Ich schließe die Augen an meinen Fingern und fliege. Baum um Baum bis ans Ende der Allee. Dort wartet der Tod und jeder Flügelschlag ist ein Fest und jeder Atemzug ein Gebet und jede Strophe die ich singe sagt: Danke. Ich hab den Regenbogen berührt.
Im Frühling wollen wir allenthalben unser Leben in Ordnung bringen. Das geschieht auf so viele Arten, wie es Menschen gibt. Die einen sind seit Ostern auf Diät und bringen ihren Körper in Ordnung. Das ist auch schon was. Wenigstens das eigene Gewicht sollte man doch beeinflussen können, wo doch sonst nur wenig auszurichten ist gegen die Zwangsabgaben für dubiose Rundfunksender, die keiner will oder die leeren Kassen für Rentner, die aus der DDR geflohen sind, gegen die Abschaffung des Bargelds und gegen die Kontrolle der Wirtschaft durch die USA, gegen unsere schleichende Vergiftung durch Nahrung und Wasser und miese Gedanken.
Die so genannten spirituellen Menschen munkeln und unken verstärkt vom Weltuntergang, vom neuen Bewusstsein und unauffällige Stadtindianer grüßen einander heimlich in der Drehtür zwischen Starbucks und diesem neuen Filipino Diner, wo das gemeine belegte Brötchen mit Burger-Titel als Traditionelles philippinisches Gericht durchgeht. Indessen lockt auf dem Bahnhofsvorplatz eine dröhnende und bildgewaltige Werbe-Show für Mexico zögernde Besucherinnen an. Junge hübsche Frauen verteilen „Freikarten“, denn es ist gratis – wo gibt es denn so was noch – doch man ahnt schon, das Express Reisebüro wartet am Ende der Ausstellung, worin die eitle Besucherin sich virtuell Tacos zubereiten oder mexikanische Mode anprobieren kann.
Mexiko – ein aufstrebendes Land! Heißt es auf dem Großbildschirm mit rasch wechselnden Bildern. So rasch, dass ich nur flüchtig lesen kann: „Ein großer Mummenschanz“ - stand das da wirklich?
Nun ja, jedenfalls rufen ein paar betrogene Rentner vor dem Regierungsgebäude ins Mikrofon nach Frau Dr. Merkel wie Kleinkinder, die aufs Klo müssen. Die Kanzlerin möge doch aus unserem Land wieder einen Rechtsstaat machen. Wieso? Der ist doch schon rechts, rufe ich leichtsinnig in die Polizeiabsperrung hinein, worin freundliche uniformierte Damen die Demonstranten davon abhalten, mir einen Flyer auszuhändigen. Da kann man nix sagen, gewalttätig gehen die nicht vor. Die Polizistinnen sind wirklich sehr sehr sehr nett. Bestimmt gehen die nachher mit den Demonstranten gemeinsam in die Strandbar an der Spree und trinken gemeinsam Daiquiri und lümmeln in den Liegestühlen. Ich hab den verbotenen Zettel aber dann doch erwischt. Wacker und rechtschaffen sehen sie aus, unsere Demonstrantinnen. Einfache gradlinige Menschen, denen hüben wie drüben nichts vergönnt war außer Kleinkariertheit und eine passive Empfängerhaltung. Drum können sie auch nicht anders, als die CDU mit Sozialistische Einheitspartei zu bezeichnen. Da fühlen sie sich dann ganz wie daheim.
Ich mache mir Sorgen, ob ich wohl auch bald schon wieder im Gefängnis lande, wenn ich auf dem Bürgersteig fahre mit meinem Fahrrad oder einmal vergesse, ein Formular rechtzeitig einzureichen oder eine Rechnung zu bezahlen, oder wenn ich eine Premium Mitgliedschaft aufgezwungen kriege, weil ich versehentlich danaben geklickt hab, oder weil ich diesen Demo-Flyer entgegengenommen hab. Es wird ja immer schwieriger, legal zu bleiben in diesem Land.
Ich schlage daher vor, die Städteplanung gleich von vorn herein auf riesige Gefängniskomplexe auszurichten, die sämtliche Infrastruktur und Komfort bieten wie Cafés, Supermärkte, Internetanschlüsse, Reisebüros, und und und …Das würde unserer famosen Kultur allerhand Schwierigkeiten ersparen und die noch legale Minderheit der ganz Braven darf sich freuen, gemeinsam mit den Geflüchteten aus den Kriegsgebieten in Turnhallen zu kampieren. Im Sommer könnten sie dann im Grundwald ihre Zelte aufschlagen und mit einem Trainingslager für interkulturelle Zusammenarbeit solvente Kundschaft aus dem Ausland anziehen, etwa aus Bayern oder der Türkei...
Nun ja, das sind alles so unsortierte und unfrisierte Gedanken, dir mir erlaubt seien, denn es macht mir nichts aus, mein Gesicht zu verlieren, wenn ich nur meinen Arsch noch retten kann...
mit freundlichen Grüßen,
Vorzimmer von Dr. Gott
um 17:00 Uhr muss ich mich an der Gefängnispforte zurückmelden. Da sitz ich ein wegen Majestätsbeleidigung. Nein, es war nicht Herr Erdogan. Es war ... Doch davon später... wenn man mich lässt ...
Liebe Gemeinde, dies ist die wahre Geschichte von Daphne Elfenbein, größte Lügnerin aller Zeiten und Zeitungsente in einer Großstadt des 21. Jahrhunderts: Berlin.
Die kleine Daphne wurde unter dem Ladentisch eines Toto Lotto Kiosks im Wedding geboren. Grade lieferte eine Großbäckerei aus Großbeeren die frischen Brötchen an. Kaffeeduft zog durch den Blätterwald der druckfrischen Zeitungen. Die Mutti rückte ihre Kleider zurecht, kämmte ihr von der Geburt derangiertes Haar und begrüßte, hinter dem Ladentisch stehend, den nächsten Kunden. Hin und wieder verschwand sie, um nach dem Baby zu sehen, das im Lager hinter dem Ladenraum auf einem mannshohen Stapel der Neuen Illustrierten Wochenschau lag und strampelte. Der Säugling hatte also Zeit genug, schon bald alle Zeitungen zu lesen, die ihm als Kinderbettchen dienten. Schon bald las das kluge Kind alle Zeitungen, derer es nur habhaft werden konnte und wurde im zarten Alter von vier bereits kurzsichtig davon.
Die Mutter des Mädchens war arm und ging nie zum Arzt. Irgendwann schenkte ein Stammkunde dem Kind eine Lupe von MäcGeiz in der Müllerstraße, damit es lesen konnte. Denn ihr intellektueller Hunger war größer als die Lust auf schokolierte Mangostreifen, die die ersten drei Lebensjahre die Hauptnahrungsquelle des Mädchens darstellten, die Mutter hatte ein Abo bei Hussel. Selbst als Klein Daphne an der Mutterbrust Kakao schlürfte, las sie nebenher das Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen. Die Lupe brauchte sie erst, als sie mit der Börsen-Zeitung anfing.
Während die Frau Mama verhärmt hinter dem Ladentisch stand und Kaffee trank, erwachte in dem Kind die Neugier auf die Welt. Aufregende Verbrechen, große Wirtschaftsunternehmen, Völkerwanderungen, Krieg, Vertreibung, Hunger, Geld, Konsum und Kultur galt es zu erkunden. Klein Elfenbein wollte ihre eigene Zeitung schreiben, worin sie die Welt durch ihre Lupe sah: Der Titel: Schokolierte Mangostreifen. Die Frau Mama versuchte noch, das Kind zu verhexen, damit es bleibe und ihr im Laden helfe. Und gewiss wusste sie nicht, was die ersten festen Schuhe bewirkten, die sie dem Kind für draußen kaufte. Sie waren von einer solchen Qualität, dass sie Flügel bekamen, wenn das Kind sie anzog, und wie von selbst über den Boden glitten. Hei was für ein Spaß! Fahrtwind, Tempo, Asphaltstraßen wie Moos und eine Fußmassage noch dazu, die die Energie bis in die Redaktion des Kinderkopfes schickte.
Ja, die Zeit war jetzt reif geworden. Klein Elfenbein schwirrte seit ihrem 05. Geburtstag, den sie in der Schuh-Abteilung von Woolworth feierte, auf ihren Wunderschuhen durch den Wedding und hielt ihre Lupe auf all die Wunder und Wunderlichkeiten, die dieser Metropolenausschnitt zu bieten hatte: Atemberaubende Trödel-Läden, türkische Cafés mit Mango-Spezialitäten, Coffee Shops mit einer unvorstellbaren Auswahl an Tageszeitungen, Frisörläden mit Drachen im Schaufenster, und und und.
Bald schon gesellte sich eine streunende Katze namens Daisy dazu. Sie war aus einem Donald Duck Band für Shakespeare Liebhaber entlaufen und gemeinsam hingen die beiden gern bei den Trinkhallen und Toto Lotto Kiosken der Umgebung herum und betrachteten mit kindlich journalistischem Blick das bunte multinationale Treiben um sie herum. Wenn sie es nur verstehen könnten, das Gewirr von türkischen, arabischen, afrikanischen Dialekten. Englisch hatten sie ja in der Börsen-Zeitung gelernt, aber das kam eher selten vor. Hmmm...
Die Wanderungen von Daphne und Daisy wurden länger. Ihr Revier vergrößerte sich und erstreckte sich schon bald bis zum Regierungsviertel an der Spree, wo sie gern im Plenarsaal saßen und Debatten verfolgten, während die arme Frau Mama daheim für den Lebensunterhalt sorgte und sich immer öfter besorgt ans Herz griff, dann aber tief und dankbar das Düfte-Potpourri ihres Ladens einatmete, während ihr Kind mit ihrer vierbeinigen Freundin im Plenarsaal in den Besucherreihen saß und Debatten verfolgten. Im Bundestag herrschte eine ganz besondere Stille und eine meditative Langsamkeit, die an Stillstand grenzte, sodass Daphne nicht selten mit ihren Flügelschuhen scharrte. Es war nicht leicht, in der einen Hand schokolierte Mangostreifen zu halten und in der anderen Hand den Stift auf dem Papier zu führen, das auf ihren Knien lag. Abends ging sie mit Daisy vietnamesisch essen und sie debattierten über Politisches: Das hörte sich etwa so an: Miau – schlürf – schleck – miau – fauch – schling – schluck... Daisy naschte Thunfisch und Daphne löffelte unter ihrer Lupe die Welt.
Fröhlich baumelte das Lesegerät den Hals der kleinen Elfenbein, als sie auf der Torfstraße laut verkündete: Leute! Es ist Zeit die Welt zu verändern! Schließlich haben nun auch Kinder nach langen Kämpfen das Wahlrecht bekommen!
Tja, liebe Gemeinde, wenn Sie jetzt bis hierher gekommen sind, ist das toll! Denn hier beginnt nun der lehrreiche Teil der Geschichte. Kann ein Mensch, der mit schokolierten Mangostreifen aufwuchs und schon mir drei eine Lupe zum Lesen braucht, ein gesundes Urteilsvermögen entwickeln? Wie kam es dazu, dass unsere kleine Lebenskünstlerin sich in ihrem Parteiprogramm plötzlich einen Wedding ohne ausländische Dialekte ausmalte, rein wie ein Toto Lotto Kiosk, sauber und aufgeräumt, immer pünktlich geöffnet, nette Gespräche mit Stammkunden, die bei der BVG oder BSR arbeiteten und bald in Rente gingen, einer Katze, die im Schaufenster schlief... Aber es stimmte: Daphne Elfenbein wollte nicht nur den Wedding verändern, sondern die ganze Welt. Alternative für Deutschland, nannten sie daher die Partei, die sie gründete, mit dem Parteiorgan „Schokolierte Mangostreifen“, schon bald die stärkste Kraft im Land?
Hoffentlich nicht. Liebe Gemeinde!! Hier mein Appell: Sorgen Sie In Gottes Namen dafür, dass es nicht so weit kommt.
die größte Offenbarung ist die Klinge. Die stillste Gnade ist der Krieg. Die kleinste Plage ist das Gänseblümchen. Das klügste Baby ist der Königsstern.
Doch blutig ist die Nacht und schwer wiegt ihre Decke aus goldenen Talern.
Die kannst du keinem Pferd verfüttern. Und trotzdem ist Pegasus meine Lieblingssternschnuppe.
Habt ihr jetzt etwa gelacht? Ich hör euch doch... doch... doch...
„Oh nee, nicht schon wieder!“ Ich hau auf den Wecker, der zu Boden stürzt. Das Deckglas rollt über den Boden. Micky Maus, vom Zifferblatt befreit mit schrillem Getös´, in das sie eingeschlossen war, rennt hinter die Lamperie und verschwindet in einem Loch. Ich bin ein Roboter, der eben „oh nee“ gestöhnt hat. Insgesamt aber funktioniere ich gut. Zwanzig Jahre funktioniere ich schon fehlerfrei, denke ich stolz, als ich nach dem Duschen Makeup auftrage, in mein graues Kostüm steige und meinem Putzilein einen Abschiedskuss auf die Stachelwange stemple, bevor ich mit meiner Laptoptasche aus dem Haus stürze. Das Übliche. Wir Frauen kennen das ja. Punkt acht stake ich in der obersten Etage auf meinen High Heels durch die Teppichflure, grüße links und rechts, ein Jungroboter (Trainee genannt), reicht mir Kaffee und dann sitze ich einer Ex-Geschäftspartnerin gegenüber, die jetzt eine erbitterte Konkurrentin ist. Nun ja, eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus, nicht wahr. Damals hat sie einen billigeren Hersteller für mein Produkt gefunden und sich heimlich selbständig damit gemacht. Doch lassen wir das. Ich rühre langsam in meinem Kaffee und warte ab, bis sie zur Sache kommt. Im Augenblick sondert sie Schmeicheleien ab. Irgendein Unwohlsein in meiner Hardware verlangt nach Aufmerksamkeit. Wahrscheinlich die Monatsregel. Von Meeting zu Meeting bis Mittags. Ich zieh den Blazer an und will in die Sushi-Bar mit ein paar Kolleginnen. Da will mein Trainee einen Anruf durchstellen. Privat. Ich roll´mit den Augen, denn ich fürchte um meinen Feierabendtermin, russische Ekstase-Massage. „Hey Liebling, wie geht’s dir?“ Schon der Klang der Stimme macht mich fuchsig. Diese transusige Gefühlsduselei. Und an der Fassade turnen die Fensterputzer auf ihren Gondeln herum.
„Oh, hi Schatz, was gibt’ s, alles in Ordnung?“, frage ich.
„Wollte nur mal anrufen und fragen wie ´s so geht.“
wieder dieses dünne kraftlose Stimmchen. Ich mach eine Grimasse, reiß mich zusammen und rufe die Familiensoftware auf.
„Wie geht’s dem Baby?“
„Oh danke gut, Liebling, der Milchschorf klingt ab, nur ich hab noch Narbenschmerzen und fühl mich schlapp.“
„Schlapp, hmmm.“, sage ich und denke: Wieder kein Sex. „Du Putzilein, ich hab´ heut abend noch ein Geschäftsessen. Kunden aus Japan. Es wird so gegen zehn.“
„Nie bist du daheim. Immer bin ich allein mit dem Kind. Ich seh´ dich kaum noch.“
Mir schwillt die Brust, wie ich das höre. Aber ich habe mehrere Management-Trainings und Seminare für Führungskräfte absolviert und weiß, was jetzt hilft: „Ach komm schon Putzilein. Richte deine Gedanken nach vorn und lass dich nicht festhalten. Rasier dir den Bart, geh mit dem Kind in den Park. Tu was. Ich habe noch zu tun, sorry – äh – mein nächstes Meeting...“
Feierabend. Auch den heutigen Tag absolviere ich wieder mit Höchstleistung. Mein Trainee schickt mir schon wieder diesen anhimmelnden Blick, die Direktorin stellt mir im Gehen einen Leistungsbonus in Aussicht. Ich zieh meinen Rock glatt, steig in den Jaguar und fahre ...
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Totenwerkstatt, Seelencenter, Tomaten-Kino, Venus-Duplo... Ich weiß nicht, was noch alles am Straßenrand mich anspringt, als ich vorbeifahre auf dem weg zu... aber das hab ich auch vergessen, denn unverhofft stellen sich mir betretene Boten in den Weg, ausgerechnet in der Zone der Begegnung, die menschenleer ist, wie immer. So kann es gehen, wenn man durch die nassen Straßen fährt und der Drahtesel nur hin und wieder ächzt, wenn es hart über den Bordstein geht. Bei Kaiser´s gibt es PIN Briefmarken. Lakritz schmeckt angeblich wie rasierte Männerbrust mit Muskeln und nachts liefern die Laster den Spargel an.
Wo wollte ich eigentlich hin? Egal. Mein Fahrrad weiß den Heimweg inzwischen allein zu finden. Ich sitze nur obendrauf und schau zu, wie links und rechts die Reklamen, die ganzen perversen Kopfgeburten, die einem das Hirn zumüllen … bis – unverhofft – besagte betretene Boten sich vor mir aufbauen an besagter Stelle.
Schlimmer ist nur der Traum, denn sie sind Mensch gewordene Verbotsschilder und tragen Uniformen und winken höchst autoritär, sodass es unumgänglich ist, für mich und den Esel, anzuhalten, die Fenster trübe vom Nieselregen, und von fern den Ruf „Betreten Verboten“ zu hören. „WAS? Betreten verboten?“
Mir ist noch immer nicht ganz klar, warum mein Weg jäh unterbrochen ist, der Esel scharrt mit den Hufen und ich blinzle hinter beschlagenen Augengläsern in die Masken dieses Venus-Duplos aus dem Lizei Parasidium, welche nun mit einem gelben Zettel winken und nach meinen Personalia fragen. Es fällt ja nicht mehr auf, wenn man verrückt ist in dieser Stadt. Unverhofft habe ich auch meinen Namen vergessen über das Riesenplakat mit dem Namen „Mundstuhl“ und Ausweis? Was für ein Ausweis? Tut mir leid, Ausnahmsweise nicht dabei, sage ich, aber warum gehen Sie nicht ins Tomaten-Kino, sage ich, und deute auf ein riesiges Glashaus, das fürchterlich lärmt, und nehmen den nächsten Zug in die Totenwerkstatt? Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.
Und – unverhofft – schwingt mein Esel die Hufe und wittert die heimische Tür, die Rücklichter stolz auf die betretenen Boten gerichtet, die nun in der menschenleeren Zone der Begegnung stehen.
(c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer
Ich zerstückle die Zeit in Tage und Stunden
um den Abstand zu messen
von da wo ich anfing zu atmen
dabei vergesse ich ganz
dass Zeit der Ozean ist,
der mich trägt
einen Wimpernschlag lang
lebendiger als der Staub
zu dem ich zurückkehre
an einem Tag, den mir keiner verrät
und ob er dort steht und meinen Namen ruft
am Ende des Regenbogens
weiß ich doch lediglich Eins:
In diesem Atemzug bin ich geborgen
und auch mit dem nächsten Einsaugen von Luft
kann der Tod mir nichts anhaben
So sei es
Danke für den Regen. Danke für den Wind. Danke für das Tannenrund. Danke für die Wege. Danke für den Tee. Danke für die offenen Herzen. Danke für das Rotwild. Danke für die Spechte. Danke für die verlorenen Seelen.
Ihr dürft wieder kommen. Wir rufen euch. Es ist nicht so gefährlich, wie ihr denkt. Seht den Tanz der Libelle im Licht. Hört wie die Bäume eure Namen rufen. Habt ihr von all den Wundern nicht genug gesehen? Geliebt seid ihr, unendlich geliebt.
Möge der Wind den Schmutz aus euren Äuglein blasen. Möge der Regen ihren Glanz erneuern. Möge das lichtsatte Laub wie Sterntaler in eure geöffneten Schürzen regnen. Möge unser Geist der Fülle keine Grenzen setzen. Mögen die Schrecken der Nacht mit den Nebeln davonziehen. Möge das gepeinigte Herz sich beruhigen. Ruhig... ruhig... alles ist gut.
Wir rufen euch, ihr verlorenen Kinder. Wir trommeln und klirren mit dem Scherbengewand des Schmerzes. Kommt zurück! Der Tod ist besiegt und nichts, nichts in der Welt kann uns mehr trennen. So sei es.
I long for the land
where the wingless fly
and silent cries touch an empty sky
I hold the moon in my palm
reminding me
of that primordial dream
emerging from a timeless stream
see how the dandelions break through the brick
and angeleyes breathe
sweet sleep on my lips
((c) Text und Bild: Brigitte Hallbauer)
Die Liebe ist ein Kletterfunken zwischen Spitzbergen und Feuerland, ein bebänderter Frieden, von den Steinen zu den Sternen, ganz wie das Singen der Bäche, Choräle Blumen im Ohr. Seht! Paarweise kriechen sie unter den Steinen hervor und putzen ihr silbernes Ätherkleid. Die Vögel wetzen die Schnäbel und im letzten Schnee balzt ein Adler. Unten keckert das Eichhörnchen einen Wirbel in die Luft. Kaum Bäume in Feuerland. Es gibt nichts zu berichten aus den Dunkelkammern des Bluts.
(Text und Bild: Brigitte Hallbauer)
Die Erfahrung der Jahre ist mit uns. Wir wissen, was wir wollen und wer wir einander sind, der Schmerz und ich. Alle Gliedmaßen folgen uns wie eine Symphonie. So wie auch die Kühe verschiedenfarbige Kräuter fressen und doch ist ihre Milch nicht grün. Man muss sich fortbewegen, und keiner weiß wie. Fiebrige Augen blicken mich aus Abgründen herauf an, todgeweiht. Kühl ist das Tal. Pelziger Sonnenschimmer auf Moosfingern, die über den Bergahorn streicheln. Fremd und unbeholfen hockt eine Krähe auf einer Bank.
In Berlin fallen die ersten Bomben. Kranke und Geflüchtete nehmen ihre Sterne ab und hasten durch Straßen, werfen sich an Mauern unter dem bösen Brummen herab stoßender Drohnen. Man muss die Gegenwart trennen von vergangenen Gräueln. Man muss die Grausamkeit neu erfinden. Der Friede der Warenwirtschaft beinhaltet das Frühstücksei. Gedanken am Wasser, worüber die Flöhe huschen. Der Kuckuck ruft. Der Schnee ist fort. Das Fieber kommt später. Schmelzbäche springen aus dem Fels, Hier geschehen noch Abschiede. Sie duften nach Rose und Feige und passen nicht in diese Welt. Die Zyklen der Sonne mit ihrem mörderischen Licht auf abgestellten Fahrrädern, leeren Pferdeställen, geschlossenen Verpflegungsstationen. Viele Wege wegen Winterschäden gesperrt. Die Wiesen glänzen von Tauperlen in frisch geschlüpftem Frauenmantel. Schon öffnet der erste Löwenzahn seinen Kelch. Ein dumpfes Greinen kündigt den Schrei an. Die Geschäfte öffnen ihre Türen.Tage im Dunstkreis des Schmerzes, angesichts von Bergpanoramen, Aufstiegen, Abstiegen und Ruhebänken, in einer Welt, in der es keinen Trost gibt, aber jede Menge Schnaps.
Kühl liegt die Nachtluft auf meiner Stirn. Der Tod hat eine eiserne Klammer um meinen Kopf gelegt. Schwer lastet der Traum. Ich brenne und hin und wieder fällt zischend Wasser auf den Brand. Auch aus den Augen schlagen jetzt Flammen. Unten liegt ein umschlungenes Paar. Ich gehe auf leisen Sohlen. Ich stehe auf und lege mich hin, getrieben vom Glück des Alleinseins. Ich steure den Sturm, der unlenkbar ist, singe gegen die Zeit an, bin da und stürze tief, zähle die Tage nicht, die aus den Kalendern fallen, suche die Flusstäler auf, die lieblichen Höhen, das duftende Moor. Da liegt ein stiller Weiher, dort unten sprudelt ein Bach. Jeden Stein drehe ich um. Jedes Kräutlein wird zwischen den Fingern zerrieben und berochen, bevor es in meiner Tasche verschwindet. Der Kuckuck ruft. Es ist Dienstag. Das Fest ist vorüber. Ich bin grußlos gegangen. Ich werde nicht wiederkommen. Eine Beklemmung schaukelt auf und ab zwischen Magen und Kehle, sodass Essen zur Qual wird. Ich bewege das Wasser, in das ich meine Bitterkeit schütte, Auf einer Bank sitzend warte ich auf den Löwenzahn, betrachte ihn von allen Seiten. Ach dass wir uns wieder haben, der Löwenzahn und ich. Dabei bin ich längst fort, sodass es eine Gnade ist, die der Schmerz über mich ausschüttet mit seinen Metaphern. Verwandlungsschmerz, Engelsschmerz. Nur ein dummes Wort könnte uns trennen. Drum halte ich still, halte still. Die Wege kreuzen das Grün grade und rein. Oben die schneeigen Gipfel.
Beim Herzausreißer sitzen, bis Liebe und Schrecken aus sämtlichen Zellen abfließen wie wenn man den Stöpsel aus schmutzigem Badewasser zieht. Der Engel der Finsternis stößt ein seltsam hohes Pfeifen aus, wie der Warnruf des Murmeltiers. Du sagst: Lass die Toten ruhen. Ich sage: Gier. Du sagst: Jetzt hat das Ende begonnen. Ich sage: Oh bitte! Was bleibt, ist der Friede der Amputierten, die Gnade des Mitgefühls, das Eins Werden mit dem Leid der Anderen. Das ist das Los der Vergessenen, die sich schon in der Wiege die Seele aus dem Leib schreien.
Ich klettere herab von Schoß des Engels. Ich liebe und werde geliebt. Ich verachte und werde verachtet. Ich stehe im Regen, doch dafür habe ich einen Schirm. Ich schlafe in frisch bezogenen Betten fremder Häuser und lausche dem weinenden Himmel, wie er sich ergießt über blühendes Grün. Es ist ein Verbrechen, wie das duftet. Der Regen räumt die Wege fußgängerfrei. Ich bin pünktlich beim Bahnhof, warte auf den nächsten Anschlusszug. Ich fahr in den Schnee, in die Berge, ins ewige Eis.
Alles ist Liebe. Voll Schnee und Eis ist sie und böse Splitter lässt sie im Fleisch zurück. So viele Kriege sammelte die Liebe auf meinem Haupt, dass sie ein Leben lang nicht zu Ende geweint werden kann. Ich habe sie auf mich genommen. Meine Wurzeln sind tot. Tot strecken sich die Gerippe meiner Äste. Sag jetzt nicht, dass du es nicht gewusst hast, Engel. Sag nicht, dass es zu spät sei. Ohne Liebe hätte es den Krieg nie gegeben, nicht den Schmerz und nicht die Wiederholung des Unsinns. So als habe man stets genau diesen Ort gesucht, so wie man sich einen Lieblingsfilm wieder und wieder ansieht. Nämlich zusieht, wie er Tag und Nacht ohne Betäubung die Eingeweide zerfleischt. Die Welt weiß nichts vom Schmerz. Nichts ahnt die Welt vom Zustandekommen der Liebe. Metapher für das Undenkbare, Formel für Tod und Untergang, erlesene Folter, Quell am Rand der (Er)Schöpfung. Engel der Finsternis – dein Name ist Liebe, Nacht und Tod. Der Platz neben mir ist leer. Doch da ruhen deine Augen auf mir. Sie brennen Löcher in mein Fleisch im Akt der Vernichtung. Da, hinter dieser Tür ging mein Lächeln verloren. Dort steht ein Geharnischter und sagt: Es wird nie wieder gut. Die Tür schlägt zu. Ich bleibe zurück: Zersplittert und froh.
Engel der Finsternis! Mach jetzt das Licht nicht an, bis ich sämtliche Kinder des Schmerzes geboren hab. Halt mich fest, wenn ich die Flüsse durchwate. Dein Thron ist kalt und aus Obsidian. Deine Lapislazuli - Flügel fächeln die Nacht. Ich lege meinen Kopf in deinen Schoß und sehe zu, wie deine Hände meinen Abgrund zuschütten, wie deine Hände das Nein absägen, das mich an den Wurzeln zerfrisst. Ich zerfließe in deinem Schoß, Engel der Nacht, ich durchströme dich, während du wachst über Schlaf und Traum. Leer wird mein Gefäß, damit es das Neue aufnehmen kann. Du lässt Gelächter durch deinen goldenen Hals rinnen und den Tod in mein Gefäß. Langsam werde ich kalt am Ort der Gnade, langsam krümme ich mich, während ich zusehe: Sterben, Welken, Niedergang: Möge der Schrei der Blumen Zeuge sein auf den Gräbern des Verbrechens.
Ich muss dabei an ein Kaleidoskop denken. Das völlige Fernsein von Intaktem. Im Scherbenschnitt abrupt wechselnde Landschaften mit vagem Ausgang. Und mit dem Anschlusszug - da steige ich regelmäßig ein und aus - träume ich weiter, sitze auf einem Fels, von Flusswasser umspült, und wasch mich mit der Asche meiner Mutter. Esse meine Faeces, auf den Leichnam meines Bruders. Und ja - Schlüsselblümchen und Löwenzahn am sprudelnden Quell. Teppiche von Löwenzahn: grell wie ein Schrei, schreiende Wiese, Aprilwiesenschrei. Wie das Balzen, Laborieren und Reiben von Forsythie, Kirschblüte, Schlehdorn und so. Osmotischer Klumpatsch, Drachengespann. Ohnehin habe ich keine Rückfahrkarte.
In Berlin jetzt wiederholt Bombenalarm. Bösester Hunger. Tagelang nur trockenes Brot und Pellkartoffeln. Die übrigen Zutaten werden halluziniert. Gas für den Herd gibt es kaum. Verdunklung.
Dann passiert es: Es erscheint ein Wald mit vollkommen eingebrochener Architektur. Hier und da ragt Gestänge, das ironisches Blattwerk treibt, Seufzer ausstoßend, weil wieder Saison ist. Die Elbe auf dem Weg nach Göttingen wird kaum frequentiert. Auch vermischen sich Eiben mit Lärchen ohne Grund. Sprudelnde Quellen tun so, als seien sie ungemein trocken und durstig. Licht, das zu Viel an Licht. Es tötet auf schneeigen Gipfeln. Indessen plagt mich das Haar und die Boote an meinen Füßen. Lieber Gott: Ich möchte Ihnen ein wenig ins Handwerk pfuschen. Was der Schmerz ist, vergisst sich so leicht, bis er einen umbringt. Dann ist im Prinzip egal, in welchem Hotel man wohnt. Kalte Kirsche im Mund. Und ein Scherenschnitt auf dem Teller, vor dem man sitzt und starrt. Als könne man ein Orakel draus lesen. Horoskop mit Kirschgeschmack. So als habe man die ganze Nacht nur auf diesen Moment hin gewacht, in eine Ecke geklemmt, aus der man mit jedem Schwanken des Zuges ein wenig nach vorn kippt. Vier Farben. Vier Gesichter. Und ein liegengebliebener Koffer. Ich fange an, mich zu verabschieden. Ariel! Ariel! Und zwardurch die Luft. Wer weiß, ob es nicht noch ein paar Überraschungen gibt.
… nämlich die Rotationen präsprachlicher Phrasen… Zauberformel vielleicht, oder die Ausschwitzungen des Leids. Dabei die grell orangenen Segel auf glitzernden Wassern, die sich in die Länge
ziehen nach nirgendwo. Fern und verloren im Ohr die Stimme vom anderen Ende der Welt oder sonst einem Jenseits, dass man schon gar nicht mehr weiß,
was sie sagt. Und dann ist es still… bis ein weiterer Satz aufsteigt. Zum Beispiel die gelbe Fassade bei Hildesheim, die brennenden Forsythien und das unbarmherzige Licht auf dem Gesicht des
Selbstmörders, der auf der Brücke steht und hinab starrt. So lasst ihn doch in Ruh mit eurem Glück, Himmelsglück, Zwiebelchen im Glas. Ariel! Ariel! Es hockt das fermentierte Jahrgangsleid im
Wartesaal zum Tod. Der Tisch ist gedeckt. Die Bäume blühen vorsprachlich, stattlich, bunt. Allerhand kleine Elfen umarmen ihren Teddy auf des Teufels Schultern. Und dann wird es dunkel. Und
bleibt dunkel. Und wird nicht mehr hell. Nur ein Pferdefuß. Mein Gott! Schon wieder Frühling!! Obgleich der Planet längst als verlassen galt. Überleben als Strafe. Noch hier sein als Schuld.
Etwas Zerbrochenes eiert. Irgendwo tobt ein Sturm. Flughäfen nehmen ihren Betrieb wieder auf. Betäubungen. Dem Schmerz gegenübersitzen wie einem geschwollenen Glied, wie eine Katze, die
absichtsvoll auf einer Wiese sitzt. Geduldig. Kaltblütig. Hin und wieder die Position wechselnd. Und dann passiert es .... (Fortsetzung folgt)
Es ist zwar noch nicht Frühling, aber trotzdem hat heute wieder was Neues angefangen. Jeden Tag fängt was Neues an. Von Neuem wird aufgestanden, geduscht, gefrühstückt, gekackt, die Haut schuppt sich, im Wasser schwimmen kleine Fische, die Milch, die gestern noch weiß war, ist heute grün, um den Honig scharen sich kleine Käfer und der arme Briefträger muss schon wieder die Post austragen. Das hat er doch gestern schon gemacht. Und ich muss schon wieder Atem holen. Das hab ich doch eben schon gemacht. Den ganzen Tag muss ich das tun. Aber eigentlich ist es nicht schlimm. Manchmal ist es sogar lustig. Zum Beispiel, dass ich die Luft anhalte, wenn ich über eine Ampel geh. Dabei zieh ich die Schultern hoch. Das hat auch die kleine graue Maus getan, die neulich über den Bahnsteig rannte - mit großen Sprüngen - dabei hielt sie einen Zigarettenstummel zwischen den Vorderpfötchen. Aber ein Neuanfang ist das auch nicht. Die Leute behaupten, es habe grad ein neues Jahr angefangen. Es sieht vielleicht so aus, ist aber dann doch nichts Neues. Zum Beispiel der Kinofilm mit dem Bären gestern, oder die Peanuts. Da läuft Charlie Brown immer noch mit seiner Schmusedecke rum und denkt, es sei der King, bloß weil sie jetzt ein Dalmatiner-Muster hat. Design muss man wohl sagen.
Jetzt weiß ich auch nix mehr. Aber ich muss so tun, als ob ich was zum Neuen Jahr zu sagen hätte, zu Neuanfängen allgemein. Hab ich aber nicht. Und damit es keiner merkt, red ich halt weiter. Sonst gibt´s schlechte Noten. In der Schule hab ich so oder so schlechte Noten gekriegt. Die Lehrerin konnte mich nicht leiden. Da konnte ich machen was ich wollte. Dabei hatte die nur Bauchgrimmen. Und meine Geschichten waren ihr unheimlich. Und RUMMS - hatt ich die Vier im Aufsatz. Aber das macht nix. Ich kletter sowieso lieber auf Bäume. Die werden jedes Jahr von Neuem grün und nie wird es langweilig. So viel zum Neuanfang.
Eigentlich sind Neuanfänge ja doch immer nur wieder ein Aufwasch vom Alten. Aber da kann man nichts machen. Die Leute wollen´s halt so. Neu muss es sein und frisch und sensationell anders.
Also ich muss jetzt gehen, die Käfer vom Honig scheuchen. Ich will mir nämlich ´ne heiße Milch mit Honig genehmigen. Huch! Da hat sich ja auch ein schöner großer Marienkäfer drauf niedergelassen. Mit ... eins - zwei - drei - vier - fünf - sechs - sieben Punkten drauf. Na wenn das kein gutes Zeichen für einen Neuanfang ist - dann heiß ich Charlie Brown.